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„Wir sehen alles“

Kathrin Irrgang entscheidet, ob Menschen einen Pflegegrad bekommen. Was die Gutachterin in Riesa erlebt:

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© Lutz Weidler

Von Britta Veltzke

Riesa. Das Navi hat Kathrin Irrgang in eine Sackgasse geführt. Karl-Marx-Hof, Riesa. Das Wohngebiet ist schon mal richtig, dennoch muss sie noch einmal wenden, um ihr Ziel zu erreichen. Die 48-Jährige ist auf dem Weg zu ihrem ersten Hausbesuch an diesem Tag. Paul Tuschke* aus der Pausitzer Delle hat einen Pflegegrad beantragt. Es wird maßgeblich von Kathrin Irrgang abhängen, ob er diesen bekommt – und damit Geld von der Pflegekasse. Die Meißnerin ist eine von rund 200 Gutachtern des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen in Sachsen, kurz MDK. Die Antragsteller müssen einen tiefen Einblick in ihre Privatsphäre gewähren. Immerhin geht es um bares Geld – finanziert von allen, die in Deutschland in die Pflegekasse einzahlen. Je nach Grad und Art der Versorgung gibt es zwischen 125 und knapp 3 000 Euro pro Monat. Rund fünf Hausbesuche macht Kathrin Irrgang am Tag, fünf Lebensgeschichten, fünf Schicksale.

Kathrin Irrgang vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) bei einem Hausbesuch. In der Regel sieht sie am Tag fünf Versicherte – und schreibt fünf Gutachten.
Kathrin Irrgang vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) bei einem Hausbesuch. In der Regel sieht sie am Tag fünf Versicherte – und schreibt fünf Gutachten. © Lutz Weidler

Es gibt Menschen, die sich quälen, die sich scheuen, die Hilfe ihrer Angehörigen anzunehmen. In anderen Fällen ist schlicht niemand da, der helfen könnte – so wie im Leben von Paul Tuschke. Dass die Kinder und Enkel im Westen leben oder das Verhältnis zerrüttet ist, erlebt Kathrin Irrgang immer wieder. In anderen Fällen sind die pflegenden Angehörigen an ihre Grenzen angekommen. Der 77-jährige Riesaer wohnt im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses, wie es sie in der Pausitzer Delle Dutzende gibt. In der Wohnung käme man kaum auf die Idee, sich in einem Plattenbau zu befinden: Die Wände sind verkleidet mit Holz und Stoff. Im ehemaligen Kinderzimmer hat Paul Tuschke eine Sitzecke aus Holz und buntem Glas gebaut, dekoriert mit Masken und allerlei folkloristischen Mitbringseln aus aller Welt. Hier lebt jemand, der gern reist.

Kathrin Irrgang nimmt in der Sitzecke Platz und klappt ihren Laptop auf. Tuschke sitzt ihr gegenüber. Die Befragung beginnt. Die Gutachterin hangelt sich durch ein Formular. Wie ist der aktuelle Gesundheitszustand? Vorerkrankungen? Operationen? Je weiter sie vorankommt, desto weiter rückt ein grellgrüner Balken in Richtung Bildrand. Gehen Sie allein einkaufen? Wie klappt das mit dem Wasserlassen? Zwischendurch schaut sie sich die Wohnung auf Barrieren hin an. Paul Tuschke war nach einem Sturz im Fitnessstudio ins Krankenhaus gekommen. Die künstliche Hüfte machte danach Probleme. „Ich war optimistisch, dass die das schnell wieder in den Griff bekommen.“ Doch es folgten mehrere Operationen, ein kleiner Schlaganfall, eine Darmverlegung, Reha. Der Senior nimmt 15 Kilo ab. Er trägt Kompressionsstrümpfe, die er sich nur langsam und unter Schmerzen anziehen kann. Im Krankenhaus habe man ihm empfohlen, den Antrag für einen Pflegegrad zu stellen. Unterstützung im Alltag bekommt er bislang nicht. „Ja, ab und zu von Nachbarn, aber darauf kann ich auch nicht immer bauen. Meine Frau ist vor sechs Jahren gestorben.“ Ein Lächeln huscht nur über sein Gesicht, wenn er vom Reisen erzählt. „Ich war oft mit dem rollenden Hotel unterwegs, ein Bus, in dem man auch schlafen kann. Meine letzte Reise ging nach Kanada und Alaska.“ Doch heute würde er wohl kaum noch eines der oberen Etagenbetten erreichen. „Das wird wohl wirklich meine letzte Reise gewesen sein.“ Damit ist das Lächeln auch schon wieder verschwunden.

Kathrin Irrgang hat ihre Befragung beendet. Nach rund einer Stunde steht sie wieder auf der Straße – und schüttelt den Kopf. „Er geht noch allein einkaufen, er hat seine Körperpflege im Griff. Ich sehe keine Chance für einen Pflegegrad. Aber das ist nur eine Momentaufnahme. Er kann später wieder einen Antrag stellen.“

Schon sitzt sie wieder im Auto. Eigentlich ist Kathrin Irrgang Kinderkrankenschwester. Nachdem ihr erstes Kind zur Welt kam, wechselte die Meißnerin aber zu einem ambulanten Pflegedienst, danach in ein Sanitätshaus. „Ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, aus dem Schichtdienst rauszukommen. Selbst im Sanitätshaus hatte ich Rufbereitschaft.“

Vom Senior bis zum Kleinkind

Also bewarb sie sich vor knapp zehn Jahren beim MDK. Was sie antreibt? „Die vielen verschiedenen Menschen.“ Auch ein Stück Neugierde sei dabei, gibt sie zu. „Das macht es spannend. Wir sind quer durch alle Milieus unterwegs.“ Irrgang saß schon in Villen und in runtergekommenen Wohnungen, „in denen man sich lieber nicht hinsetzen will. Wir sehen alles“.

Die Gutachterin geht fest davon aus, dass Versicherte auch ab und zu ihr Schauspieltalent bemühen, um höher eingestuft zu werden. „Durch Hinterfragen komme ich aber ganz gut dahinter.“ Während den Fahrten bleibt es still im Auto von Kathrin Irrgang – keine Nachrichten, kein Hörbuch, keine Musik. Sie brauche diese Ruhe, um die Hausbesuche zu verarbeiten.

Nach einer knappen Viertelstunde steigt Kathrin Irrgang in Merzdorf aus ihrem Auto. In einer Doppelhaushälfte erwartet sie schon die Tochter von Heide Adner*. Die Seniorin lebt mit ihrem Mann in der Wohnung im ersten Stock. Er hat bereits einen Pflegegrad. Nach einem Vorfall in der Küche stand für Heide Adner fest: Es geht nicht mehr. „Ich wollte heiße Kartoffeln abschütten, doch ich konnte den Topf nicht halten“, erzählt sie. Arthrose hat ihre Gelenke befallen – die Finger kann sie nicht mehr ausstrecken. Ihr Hobby musste sie bereits aufgeben. In der Stube hängen große Stickbilder. Eines zeigt das Karwendelgebirge. „Dort haben wir gern Urlaub gemacht.“ Heute verlässt Heide Adner das Haus nur noch in Begleitung. Die Treppe nach unten geht sie rückwärts. So fällt es der 87-Jährigen leichter. Obwohl ihr Körper zuweilen streikt, hilft sie nach wie vor ihrem Mann, etwa beim Waschen. Bis auf das Mittagessen bereitet sie auch noch Abendbrot und Frühstück vor.

Kathrin Irrgang wird für die Seniorin einen Pflegegrad vorschlagen. Wie ihre Entscheidung ausfällt, wisse sie meist schon nach wenigen Minuten. „Im Laufe der Begutachtung schaue ich, ob sich mein Eindruck bestätigt.“ Zum Abschluss ihres Besuchs empfiehlt die Gutachterin, die Teppiche aus der Wohnung zu verbannen: „Das sind Stolperfallen.“ Heide Adner weiß das. Doch besonders ihrem Mann werde das nicht gefallen. „Er orientiert sich an den Teppichen.“ Er ist blind.

Vom hochbetagten Senior über Menschen, die durch einen Unfall aus ihrem gewohnten Leben gerissen wurden, bis hin zu Kleinkindern, die mit Behinderung auf die Welt gekommen sind – Kathrin Irrgang kommt mit den unterschiedlichsten Fällen in Kontakt. Noch am Tag des Hausbesuches schreibt sie ihre Berichte. Der Fall ist für sie damit abgeschlossen. „Ich lösche die Namen und die Gesichter aus meinem Gedächtnis. Dass ich jemanden auf der Straße wiedererkenne, kommt ganz selten vor.“ Sie hat eine unsichtbare Mauer zwischen sich und ihrem Beruf gebaut. Dennoch: Irrgang sieht vieles, bei dem andere lieber wegschauen. Will man da überhaupt noch alt werden? Sie überlegt einen Augenblick. „Wahrscheinlich ist es ganz gut, dass man nicht weiß, was kommt.“

*Die Namen wurden von der Redaktion geändert.