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Wie die Stasi noch heute wirkt

Der Schriftsteller Lutz Rathenow berät zum Unrecht im SED-Staat. Er will öfter raus und mit den Leuten reden. Manchmal schafft er das auch, wie jetzt in Pulsnitz.

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© Reiner Hanke

Von Reiner Hanke

Die ersten Pulsnitzer warteten schon vor Beginn der Sprechstunde an der Tür eines kleinen Büros im Rathaus der Stadt. Das war für einen Tag ein besonderer Ort. Der Schriftsteller und Bürgerrechtler Lutz Rathenow hatte sich angesagt – in seiner Funktion als Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, wie es etwas sperrig heißt. An seiner Seite Utz Rachowski, Schriftsteller und ehemaliger politischer Häftling. Er berät schon seit 15 Jahren. Und Annegret Jahn-Marx als Expertin für Stasi-Unterlagen von der Außenstelle des Stasi-Unterlagen-Archivs in Dresden. Sie kann bestätigen, dass auch nach 27 Jahren immer noch neue Informationen über die Stasi-Machenschaften aus ihrer Zentrale in Berlin kommen.

Dort puzzeln Mitarbeiter weiterhin geschredderte Akten zusammen. Auch der Wunsch in diese Einsicht zu nehmen sei unvermindert. Meist sind die Menschen sehr aufgewühlt: „Und wir müssen sie erst einmal beruhigen“, sagt Utz Rachowski. Allein 20 frische Anträge auf Akteneinsicht nahm Annegret Jahn-Marx aus Pulsnitz mit. Es sei jetzt zunehmend die Generation der Kinder und Enkel, die Aufklärung zur Rolle ihrer Eltern wollen. Der Berater erzählt von einer Frau in der Sprechstunde. Sie quälen bis heute böse Kindheitserinnerungen. Und die Frage: „Wurden wir überwacht? Da waren solche unheimlichen Nächte“, erinnerte sie sich. Fremde Männer kamen in die Wohnung, fremde Stimmen machten Angst. Danach sei der Vater immer sehr verstört, ja verändert gewesen. Manchmal habe sich das Kind unter der Decke versteckt. Nicht ohne Grund. Offenbar waren es tatsächlich Stasimitarbeiter, die den Vater bearbeiteten und den Familienfrieden störten, weiß sie nun und hat ein Stück persönlichen Frieden gefunden. Der Vater war standhaft geblieben.

Manche spüren keine Reue

Manchmal sei ihm zum Heulen nach so einem Gespräch, sagt Utz Rachowski. Wie bei dem Stasioffizier, der angetrunken in die Sprechstunde platzte, ohne jegliche Reue. Manchmal sei er auch wütend. Wie nach dem Bericht eines Kirchenmitarbeiters: „Elf Spitzel waren auf ihn angesetzt.“ Der Mann war in der Öffentlichkeit geächtet, beruflich auf dem Abstellgleis. Jetzt wollte er die Klarnamen seiner Spitzel wissen. Bei den Kirchenverantwortlichen stieß er auf eine Mauer des Schweigens. „So etwas macht mich zornig.“ Nun muss das Archiv sprechen. Das soll es auch für einen grauhaarigen Mann, der vorsichtig an die Tür klopft. Er sucht nicht zum ersten Mal Antworten in der Vergangenheit. Es geht um einen Decknamen in seiner Akte. Bis zu zwei Jahre könne so eine Entschlüsselung dauern, erfährt er. Aufarbeitung braucht Zeit. Für manchen vielleicht zu lange. Lutz Rathenow sagt: „Manchmal zermartern sich die Menschen schon über Jahre den Kopf. Sie wollen dann endlich Klarheit über die eigene Biografie oder die der Eltern, um endlich abschließen zu können. Habe ich die richtigen Entscheidungen im Leben getroffen? Manchmal brauchen sie auch den Abstand der Jahre, um die Dinge besser ertragen zu können.“ Für die Berater beginnt dann oft die Recherche im Stasiarchiv oder in anderen Quellen.

Andrang bei der Sprechstunde

So kennt auch Utz Rachowski gute Gründe für das anhaltende Interesse am Stasithema und bei anderen Differenzen mit dem SED-Regime: „Es sind Geschehnisse, die weit in der Vergangenheit liegen. Aber sie wirken in die Gegenwart in das heutige Deutschland hinein.“ Gerade jetzt kommt eine ältere Generation in die Sprechstunde, für die Opferpensionen und Rentenfragen ganz aktuell sind. Es gab viele Leute, die Probleme im Beruf hatten, die nicht die erhoffte Karriere machen konnten, weil sie als politisch unzuverlässig eingeschätzt wurden. Utz Rachowski: „Menschen gehen jetzt in Rente, bemerken Lücken und sind erschrocken über geringe Bezüge. Es geht um Brüche in Biografien, Haftzeiten und Berufsverbot oder gesundheitliche Folgen. Es geht um Gerechtigkeit.“ Auch in Pulsnitz gebe es solche Fälle. „Dabei müssen wir auch die Kritik aushalten, dass nicht genug für die Opfer getan wird“, sagt er. So sei es z. B. nicht leicht Gesundheitsprobleme auf eine politische Einwirkung zurückzuführen, dämpft Lutz Rathenow manche Hoffnungen. Aber auch, wenn sich nicht alle erfüllen, sind Lutz Rathenow gerade die Sprechtage auf dem Land heute wichtiger als die in Dresden oder Leipzig. Raus zu gehen zu den Leuten. „In die Sprechstunden hier kommen Menschen, die nie nach Leipzig oder Berlin in so eine Behörde fahren würden.“ Mancher komme auch zu spät und hat Gelder verpasst. Das ist bitter, bitter notwendig umso mehr die Termine auf dem Land, sagt Rathenow.

Der Besucherstrom bestätige ihn. Rund 30 Bürger zwischen 35 und 84 Jahren waren es allein in den Stunden in Pulsnitz – jeder mit einer anderen Geschichte. Eine beachtliche Zahl findet Rathenow: „Wir wollen zeigen, dass der Staat zuhört, die Gefühle ernst nimmt und nicht wegguckt. Dass Demokratie keine Phrase ist. Das hängt auch mit der aktuellen Lage zusammen. Es ist unser Anteil, dazu beizutragen, dass Wahlzettel wieder anders aussehen, aber wir müssen den Denkzettel auch annehmen.“ Er wolle deshalb noch häufiger raus und jeder Kommune in Sachsen das Beratungsangebot unterbreiten.

Der Berater im Rathaus

So, wie im kargen Pulsnitzer Rathauszimmer. Vor 27 Jahren sei er an dem Tag damit beschäftigt gewesen Westjournalisten zu erklären, was da in Leipzig und Dresden im Oktober 1989 passiert. Die Grenze war ja noch dicht und auch Westjournalisten durften nicht ohne Weiteres außerhalb von Berlin recherchieren. Rachowski war ausgebürgert und auf Vortragsreise in Schweden. „Ich hätte in den Tagen gern mit meinen Eltern in der DDR gesprochen, aber es war nicht möglich.“

Zu Pulsnitz hat Lutz Rathenow im Übrigen noch eine besondere Beziehung. Allerdings höchst familiärer Art und über seine Frau. Denn sie ist die Tochter einer stadtbekannten Persönlichkeit. Die alte Dame feiert jetzt ihren 101. Geburtstag. Es ist die Pilzberaterin Elfriede Herschel. Aber vielleicht kommt er ja demnächst nicht nur zum Geburtstag nach Pulsnitz, sondern zu einer Veranstaltung im Spannungsfeld von Stasiakten und DDR-Biografien. Und dann nicht im kleinen Rathaushinterzimmer.