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Wenn plötzlich ein Stuhl leer bleibt

Am Gymnasium Luisenstift in Radebeul ist ein Schüler an Blutkrebs erkrankt. Wie seine Mitschüler mithilfe eines Experten damit umgehen.

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© Arvid Müller

Von Beate Erler

Radebeul. Remo Kamm legt die Mutperlenkette auf den Tisch. Alle Schüler der achten Klasse haben sich nun um sie versammelt. Viele bunte Perlen hängen schon an der Kette. Sie gehört Christian (14), einem Mitschüler. Zwei Wochen vor den Sommerferien hat er erfahren, dass er an Leukämie erkrankt ist. Seitdem ist er im Universitätsklinikum in Dresden und wird lange nicht mehr beim normalen Unterricht dabei sein können. Für eine der achten Klassen am Gymnasium Luisenstift beginnt das neue Schuljahr deshalb mit dem Besuch des Psychologen Remo Kamm vom Sonnenstrahl e.V. Dresden. Die Schüler haben sich den Experten eingeladen.

Der Förderkreis für krebskranke Kinder und Jugendliche betreut die Erkrankten und deren Familien und begleitet sie psychologisch. Die Mitarbeiter des Vereins gehen aber auch an Schulen, um über die Krankheit aufzuklären und Fragen zu be-antworten. Auch wenn der Schüler in seine Klasse zurückgekehrt ist, bekommt er weiterhin Unterstützung, um erfolgreich weiterlernen zu können.

Remo Kamm arbeitet seit fünf Jahren als Psychologe beim Sonnenstrahl-Verein und stand schon vor mehr als 50 Schulklassen: „Diese Woche bin ich noch an einer Schule in Riesa und an einer in Lommatzsch“, sagt der 32-Jährige. Immer wenn er in eine Schule gehen muss, ist auch ein Schüler an Krebs erkrankt. Am Luisenstift ist Christian der erste Schüler mit der Erkrankung. In Dresden und Umgebung bekommen 60 Schüler im Jahr die Diagnose. Auch wenn die Lehrer und Mitschüler immer sehr betroffen reagieren, ist diese Arbeit für Remo Kamm eine große Motivation: „Es ist ein wichtiger Teil meines Berufs, weil ich Hilfe und Orientierung gebe.“

Anhand der Mutperlenkette erfahren die Schüler, wie viele und welche Behandlungsschritte Christian schon hinter sich gebracht hat. Jede Perle, die Christian auf seine Kette gefädelt hat, steht für einen Behandlungsschritt. Bei vielen ist sie am Ende zwei bis drei Meter lang. Die erste Perle ist rot und steht für die erste Blutabnahme. „Was denkt ihr“, fragt Remo Kamm, „welche Bedeutung hat die Perle mit der Mütze?“ Eine Schülerin antwortet, dass sie den Haarausfall symbolisiert. Besonders für die Mädchen sei das sehr schlimm, sie tragen dann häufig Caps oder Perücken.

Die Aufklärung in der Klasse des erkrankten Schülers wird den Eltern meist gleich zu Beginn angeboten. Es gibt ein Treffen mit der Klinikschule, denn die Jugendlichen werden auch auf der Station unterrichtet. Sie bekommen Einzelunterricht am Bett und schreiben Klassenarbeiten, wenn sie sich gut genug fühlen. Sie haben aber nur wenige Stunden, weil ihre Kraft für mehr Unterricht nicht ausreicht. Außerdem arbeiten sie mit Musik- und Kunsttherapeuten zusammen, um sich etwas vom Klinikalltag abzulenken.

Pro Jahr erkranken 0,016 Prozent der Kinder und Jugendlichen an Krebs. Das sind in Deutschland etwa 2 000 Neuerkrankungen im Jahr. „Es sind also nur sehr, sehr wenige“, sagt Remo Kamm. Ungefähr ein Drittel von ihnen erkrankt an Blutkrebs, so wie Christian. Die Ursachen sind bei Kindern nicht bekannt. Faktoren wie Rauchen, ungesunde Ernährung und Lebensweise sind eher auszuschließen. Deshalb sagen Ärzte oft, es sei eine „blöde Laune der Natur“, so der Psychologe. Die gute Nachricht ist, dass dank des medizinischen Fortschritts, Medikamenten und Behandlungen heute eine Heilung bei bis zu 85 Prozent der Betroffenen möglich ist.

Remo Kamm hat während seiner Arbeit in den Schulklassen die Erfahrung gemacht, dass die Jugendlichen von sich aus oft nur wenige Fragen stellen. Deshalb teilt er zu Beginn der Stunde kleine Karten aus, auf denen die Schüler ihre Fragen loswerden können. Dass sie viel wissen wollen, merkt der Psychologe immer dann, wenn er die Karten wieder einsammelt und die Fragen laut vorliest: Wie geht es Christian? Hat er noch Haare? Wie kann man die Krankheit bekommen? Wie lange dauert es, bis Christian wiederkommt?

Wenn die Behandlung gut verläuft, dauert sie meist ein Dreivierteljahr. In der Regel sind die Patienten eine Woche auf Station und dann zwei Wochen zu Hause, um sich auszuruhen. In den Sommerferien hatte Christian in der Klinik Besuch von vier seiner Klassenkameraden. Am Ende der Stunde richtet Remo Kamm noch viele Grüße von Christian aus und dass er sich über den Besuch seiner Freunde sehr gefreut hat. Bis zur nächsten Schulstunde be-kommen die Schüler noch eine besondere Hausaufgabe. Sie sollen sich überlegen, wie sie ein Video oder Fotos mit Grüßen für Christian gestalten können.