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Wenn Kinder plötzlich Kopftuch tragen

Was können Eltern tun, wenn sich ein Kind islamistisch radikalisiert? Der Fall Linda W. als Lehrstück.

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© ndr/ARD

Von Theresa Hellwig

Seit Kurzem zieht er nur noch Hochwasserhosen an, lässt sich einen Bart wachsen. Sie wiederum trägt ein Kopftuch. Beide wollen kein Schweinefleisch mehr essen, putzen sich zuweilen die Zähne mit einem Holzstab, wie es einst Mohammed getan haben soll, sprechen vom „wahren Islam“ und bezeichnen gemäßigte Muslime als Ungläubige. Im Internet schauen sie sich Videos von salafistischen Predigern an.

So oder ähnlich können die Anzeichen sein, wenn sich Jugendliche radikalisieren, und derart war es auch bei Linda W., die gerade im Irak zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde. Die inzwischen 17-Jährige aus Pulsnitz hatte sich 2016 der Terrororganisation Islamischer Staat angeschlossen. Über Internetchats kam sie damals in Kontakt mit IS-Anhängern. Das Mädchen begann, sich nach religiösen Regeln zu kleiden und Kopftuch zu tragen. Im Sommer 2016 flog die damals 15-Jährige heimlich nach Istanbul, gelangte über Rakka in Syrien nach Mossul im Irak. Noch in der Türkei soll sie per Telefon einen IS-Kämpfer geheiratet haben.

Romantisierende Propagandavideos

Dass die Propagandavideos bei Linda W. ihre Wirkung nicht verfehlten, hatte womöglich auch mit Konflikten in der Familie zu tun. Das sei in vielen Fällen von Radikalisierung ein Problem, erklärt Erik Alm. Als Landeskoordinator leitet der 31-Jährige die sächsische Koordinierungs- und Beratungsstelle Radikalisierungsprävention Kora. Die bei der sächsischen Ministerin für Integration angegliederte Einrichtung berät Menschen, die sich um eine islamistische, dschihadistische oder salafistische Radikalisierung von Personen aus ihrem Umfeld sorgen. Gar nicht so selten klingelt deshalb bei Alm das Telefon. Dann rufen Lehrer, Eltern oder auch Flüchtlingshelfer an und bitten um Rat, weil sich die jugendliche Tochter oder ein Schüler auffällig verhalten. Alm vermittelt dann an Experten, die sich mit den betroffenen Familien in Verbindung setzen oder in die Schulen und Flüchtlingseinrichtungen fahren.

Oft habe es in den Familien der Jugendlichen einen Anlass gegeben wie die Scheidung der Eltern, Konflikte mit Geschwistern oder gar einen Todesfall. Auch Unterforderung oder Langeweile könnten dazu führen, dass Propagandavideos verklärt würden. „Oft handelt es sich zunächst um eine Provokation oder um eine Aufmerksamkeitssuche“, erläutert der Friedens- und Konfliktforscher. Häufig spiele auch ein Streit mit dem Vater eine Rolle.

Jugendliche, die in Deutschland aufgewachsen sind, und Flüchtlinge können davon gleichermaßen betroffen sein. Handelt es sich bei den Radikalisierten um deutsche Jugendliche, so rutschen diese oft ohne vorherige Kontakte zu der Religion direkt in die radikal islamistische Szene. Sie hören vom Islam, recherchieren im Internet und stoßen so auf die Videos mit den charismatischen Predigern. „Früher wurden Jugendliche auf diese Weise von Rechtsextremen eingefangen, heute nutzen auch Salafisten die Sorgen der Jugendlichen aus.“

Bei Flüchtlingen spielt häufig das Gefühl der Zurückweisung eine Rolle: „Wenn sich junge Flüchtlinge, die vielleicht sogar ohne Eltern ins Land kommen, abgelehnt fühlen und ihr Asylstatus ungewiss ist, kann diese Verunsicherung die jungen Menschen in die Fänge der islamistischen Bewegung führen.“ Dabei spielen auch islamfeindliche Bewegungen, wie Pegida oder die Identitäre Bewegung, eine Rolle. Es komme vor, dass sich junge Muslime dadurch in eine Ecke gedrängt fühlen. „Das kann zu einer Sinnkrise führen und die Betroffenen anstacheln,“, erklärt Alm, „sodass eine Wechselwirkung entsteht“.

In dem knappen Jahr, in dem es die Kora gibt, wurden durch das Aussteigerprogramm Sachsen Angehörige zahlenmäßig etwa im niedrigen bis mittleren zweistelligen Bereich beraten. Auch an Schulen oder in Flüchtlingsheime fährt die Beratungsstelle, um den Unterschied zwischen dem Islam und Islamismus zu erklären und über Radikalisierung aufzuklären.

Zu große Konflikte vermeiden

Ein regionaler Brennpunkt für Radikalisierung in Sachsen sei Leipzig mit der Al-Rahman-Moschee. Der Imam dieser Moschee, Hassan Dabbagh, ist dem Verfassungsschutz als Salafist bekannt. Auch die „Sächsische Begegnungsstätte“, die an mehreren Orten in Sachsen präsent ist, wird wegen ihrer Verbindung zur sunnitisch islamistischen Muslimbruderschaft vom Verfassungsschutz beobachtet. Im Hintergrundbericht des Verfassungsschutzes heißt es allerdings auch: „Die große Mehrheit der Muslime in Sachsen verfolgt keine solchen Bestrebungen.“

Entdecken Eltern, dass ihr Kind im Internet Propagandavideos anschaut, so rät Erik Alm dazu, das Kind darauf anzusprechen, ohne einen großen Konflikt entstehen zu lassen. Sie sollten dem Kind die menschenverachtende und rassistische Haltung der Personen im Video aufzeigen. Auch die Kora kann eine Anlaufstelle sein. Experten helfen den Betroffenen dann – je nachdem, wie weit sich diese bereits radikalisiert haben – zu erkennen, dass Islamismus keine Lösung ist, und die Kontakte mit der Szene abzubrechen. Je nach Bedarf kann das Aussteigerprogramm beispielsweise auch eine Suchtberatung umfassen. Mit einem einzelnen Gespräch ist es zumeist allerdings nicht getan – ist eine Person tatsächlich in den Islamismus abgerutscht, handelt es sich um einen langfristigen Beratungsprozess. Erik Alm sagt dazu: „Es ist dann nicht das Ziel, die Person vom Islam wegzubringen – vielmehr soll ein Wandel zum gemäßigten Islam erfolgen.“

Die Kora ist montags bis freitags von 9 bis 16 Uhr unter 0351 / 564 564 9 zu erreichen.