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Wenn Gott und die Welt persönlich werden

Beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten gewannen Schüler aus Sachsen mehrere Preise. Und noch viel wichtiger: Einen Bezug zu ihrer Vergangenheit.

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© Thomas Kretschel

Von Franziska Klemenz

Als wär Mathe nicht nervig genug. Zahlen über Zahlen. Damit rechnen ein Albtraum, dann auch noch merken? Danke, lieber Geschichtsunterricht. Wann starb dieser, wann eroberte jener... Staubkrusten, die Vorschlaghammer ratlos machen. Dröge, tot, vergangen. Jahreszahlen lernen, genau das bedeutete das Fach Geschichte für Julia Keller. Bis sie es erlebte. Am Mittwoch ehrte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die 13-Jährige zusammen mit anderen Schülern aus Sachsen und ganz Deutschland im Berliner Schloss Bellevue mit dem Geschichtspreis.

Für Gruppenarbeiten der Löbauer Pestalozzi-Oberschule und des Gymnasiums Dresden-Plauen gab es jeweils den dritten Preis, Julia Keller vom Dresdner Romain-Rolland-Gymnasium bekam für ihre Arbeit im bundesweiten Wettbewerb Platz zwei. Geschichte riss sie plötzlich mit, was war geschehen? Eine Beziehung. Weit hatte die Körber-Stiftung das Motto des Wettbewerbs gesteckt. „Gott und die Welt. Religion macht Geschichte“. Nur eine Bedingung gab es: den persönlichen Bezug, ob durch Familie oder Wohnort. Ein halbes Jahr lang woben Schüler aus Religion und Geschichte ihre persönlichen Arbeiten. Die Spurensuche von Julia Keller, damals Siebtklässlerin, begann in der Familie und führte in die Strehlener Christus-Kirche. Wendejahr 1989, Julias Vater war Mitglied der jungen Gemeinde. Schauplatz der friedlichen Revolution, getrieben von der Gruppe der 20. „Für mich war das total neu. Natürlich wusste ich, dass es die Wende gab, von der Rolle meiner Heimatstadt Dresden hatte ich aber keine Ahnung“, sagt Julia. Die DDR kommt erst später im Lehrplan vor, darauf will sie nicht mehr warten.

Geschichte geht auch ohne Gewalt

Zeitzeugen müssen her. „Ich habe mit Frank Richter gesprochen. Er hat mir von den Ereignissen im Oktober 1989 erzählt, von den Schlägereien und den Verhaftungen. Richter hatte sich in den Kopf gesetzt, keine Gewalt zu dulden, nur Dialog. Er sprach mit Polizisten, forderte ein Gespräch mit dem Bürgermeister. Er wollte die Leute von der Straße holen.“ In vier großen Dresdner Kirchen sollten sie darüber sprechen, was geschehen war – und was noch geschehen musste. Julias Spurensuche ging weiter, ein Treffen mit dem Strehlener Pfarrer führte sie zu ungeahntem Material. Ein heimlicher Mitschnitt vom 9. Oktober, das Gespräch der Gruppe 20 mit Bürgern in der Kirche.

„Natürlich fand die Wende nicht nur in Dresden statt, die Mauer fiel in Berlin. Aber mir wurde klar, dass Dresden den Grundstein gelegt hat“, sagt Julia. „Als Kinder haben wir gelernt, dass man Diskussionen mit Worten statt Gewalt lösen soll. Frank Richter ist dafür ein Vorbild.“ Kämen Besucher nach Dresden, heute könnte sie die Geschichtsträchtigkeit ihrer Stadt mit mehr als August dem Starken begründen, sagt Julia. Gedenktafeln malen plötzlich Bilder. „Zu Weihnachten gehen wir aus Tradition in die Strehlener Kirche. Eine Gedenktafel zeigt dort den überfüllten Kirchsaal von 1989. Daran werde ich dieses Jahr bestimmt denken müssen, wenn ich in der Kirche sitze.“ Damit auch andere den Interview- und Gesprächsmitschnitt so unmittelbar erleben können, vertonte Julia ihre Recherche. „Das ganze Fach Geschichte will zu der Erkenntnis beitragen, dass Gegenwart durch Vergangenheit verstanden werden kann“, sagt Geschichtslehrer Winfried Schumacher. „Durch den Wettbewerb konnten die Schüler das am eigenen Leib erfahren. Ein Prozess, den ich im Unterricht so nicht leisten kann.“ Er und Schulleiter Alfred Hoffmann begleiten Julia zur Preisverleihung nach Berlin.

Zu sächsischen Landessiegern wurden neben Gymnasiasten und Oberschülern aus Plauen, Löbau, Borna, Grimma, Leisnig und Treuen noch zwei ältere Mitschülerinnen von Julias Gymnasium. Auch sie durften nach Berlin fahren. Vivienne Amm, 18 Jahre alt, schrieb eine Arbeit über die offene Jugendarbeit in der Dresdner Weinbergskirche zwischen 1970 und 1976. Irma Schubert, 16 Jahre alt, beschäftigte sich mit Bausoldaten, ihr Großvater hatte sie zu DDR-Zeiten als Diakon betreut. „Sie verweigerten Waffen, deshalb drohten ihnen harte Konsequenzen. Ich habe Hochachtung davor, dass sie berufliche Werdegänge für ihren Glauben geopfert haben“, sagt Irma. Gewaltfreiheit, das Ideal der Landessiegerinnen. Hätten frühere Sieger es nur ähnlich gesehen. Es hätte der Geschichtsschreibung viele Jahreszahlen erspart.