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Wenn Eltern überfordert sind

Mobile Familienhelfer unterstützen Eltern, die ihren Alltag nicht allein bewältigen können. Ein Hausbesuch in Freital.

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© Karl-Ludwig Oberthür

Von Tobias Hoeflich

Freital. Das selbstgemalte Bild ziert die Wand im Wohnzimmer. Darauf ein Haus, ein lachendes Kind und der Spruch: „Alles Gute zum Geburtstag, lieber Papa. Dein Marvin*“. Auf dem Sofa davor sitzt Papa und wartet auf die Familienhelfer. Zwischen Fernbedienungen, Tabakdosen und Feuerzeugen steht eine Spielzeuglok auf dem Couchtisch. Papa wird heute viel über Marvin reden. Der Zwölfjährige macht ihm und seiner Frau Sorgen. Auch Renate Neuhaus und ihre Kollegen reden an diesem Morgen über Marvin. Zu fünft sitzen sie im Dienstzimmer vom Kinderparadies Freital an der Carl-Thieme-Straße. Bei einer Tasse Kaffee wird der Tagesplan durchgesprochen. Jeden Montag fahren die Mitarbeiter auf Hausbesuch zu Familien, die ihren Alltag nicht allein bewältigen können. Den Rest der Woche werden die Kinder nach der Schule vor Ort betreut. Auf den zwei Etagen gibt es zum Beispiel ein Bau- und Hausaufgabenzimmer, Gemeinschafts- und Ruheräume. Bis zu 25 Kinder haben hier Platz.

Teilstationäre Familienhilfe, so nennt Neuhaus ihre Arbeit. Manche Eltern haben sich selbst bei dem Freitaler Kinder- und Jugendhilfeverbund gemeldet, andere sind über das Jugendamt zu ihm gelangt. Derzeit betreut der Verein neun Familien.

Es gibt viele Gründe, warum Eltern es nicht schaffen. Alkohol, Drogen, das spiele fast nie eine Rolle. Manchmal sind es psychische Erkrankungen bei den Erziehenden, manchmal zu viele oder verhaltensauffällige Kinder. „Dann sind die Eltern einfach überfordert.“ Auch Familie Lehmann* mit ihrem Sohn Marvin und seinen Geschwistern braucht Hilfe. Viele Jahre schon unterstützt der Verein die Lehmanns.

Seit 2001 gibt es das Freitaler Kinderparadies. Sechs Angestellte arbeiten hier, davon vier Pädagogen. Familie Lehmann ist schon lange dabei. „Beim Marvin müssen wir aufpassen“, sagt Neuhaus zu ihren Kolleginnen. Er hat viele Fünfen und Sechsen nach Haus gebracht, ist versetzungsgefährdet. „Donnerstag hat er einen Verweis bekommen, weil er nicht fleißig genug ist.“ Nach der Beratung setzt sich Neuhaus mit ihrer Kollegin ins Auto. Das Ziel: die Wohnung von Familie Lehmann.

Der Verein finanziert sich vor allem durch das Jugendamt des Landkreises. Hinzu kommen private Spenden. Doch es gibt auch Leute, die den Einsatz der Mitarbeiter nicht verstehen. Die sagen: Diese Familien sind selbst schuld, bekommen alles in den Arsch gesteckt. So ist das nicht, sagt Neuhaus. Familie Lehmann zum Beispiel: der Vater ein ehemaliges Heimkind, die Mutter trockene Alkoholikerin. „Wenn man die Geschichten der Eltern hört, versteht man, warum es in den Familien nicht so läuft.“

„Es ist ein Angebot, mehr nicht“

Renate Neuhaus und ihre Kollegin haben inzwischen im Wohnzimmer Platz genommen. Ja, die schlechten Noten seien ihm bekannt, sagt Vater René Lehmann. „Ich hab ihm klipp und klar gesagt, was das für Folgen hat. Und dass ich keine Lust hab, mir jedes Mal die Gusche dusslig zu reden.“ Neuhaus entgegnet, dass es vielleicht nicht klappen werde mit der Versetzung. Lehmann zuckt mit den Schultern. Wie sollte er helfen? „Ich bin 40 Jahre raus aus der Schule.“

Knapp eine Stunde reden die Mitarbeiter vom Kinderparadies mit den Eltern. Meist spricht der Vater und die Mutter hört zu. Sie wirken nicht, als wären ihnen die Kinder egal. Nur scheinen sie überfordert mit dem familiären Alltag. Sperrmüllzettel, Arzt- und Amtstermine, Aktivitäten am Wochenende: Nach solchen Dingen erkundigen sich Neuhaus und ihre Kollegen. Den Eltern falle es oft schwer, weil sie selbst in Familien groß geworden sind, in denen es keinen geregelten Alltag gab. Neben den Alltagsdingen organisiert das Kinderparadies zum Beispiel auch Elternfrühstücke und Familiennachmittage. Außerdem fahren die Kinder und Jugendlichen jedes Jahr gemeinsam mit den Betreuern in den Sommerferien eine Woche in den Urlaub, dieses Jahr in die Schorfheide bei Berlin. „Wir sagen aber nicht von oben herab: Macht das so und so“, sagt Neuhaus. „Wir geben Empfehlungen. Es ist ein Angebot, mehr nicht.“ Hilfe zur Selbsthilfe, so beschreibt sie ihre Arbeit.

René Lehmann indes hat selbst eine Idee, wie Marvin in der Schule besser wird. „Vielleicht kann er mal mit diesem Justin zusammen lernen. Die könnten sich ergänzen. Die Frage ist nur, ob die das wirklich auch machen.“ Sie können es ganz einfach überprüfen, wenn sie Justin hierher holen, schlägt Neuhaus vor. „Gute Idee! Werden wir probieren.“

Neuhaus und ihre Kollegin verabschieden sich. Sie haben noch zwei weitere Familien, die sie an diesem Vormittag besuchen werden. Die Lehmanns werden sie schon übermorgen wiedersehen. Dann wird im Kinderparadies gekocht, gemeinsam mit Kindern und Eltern. Er könne zwar nicht kochen, sagt Lehmann. Aber auch das will er probieren.

* Namen von der Redaktion geändert