Merken

Wenn das Runde ins Eckige muss

Borthens Obstbauern drücken bei der Apfelernte auf die Tube. Der trockene Sommer wird die Erträge etwas schmälern.

Teilen
Folgen
NEU!
© Katja Frohberg

Von Jörg Stock

Das Runde muss ins Eckige. Das gilt auf dem Bolzplatz, aber jetzt auch hier, zwischen den Apfelbaumspalieren irgendwo bei Saida. Christian Bertz wirft seinen betagten Belarus an. Gehorsam ruckt der Schlepper sowjetischer Bauart vorwärts. Der Traktorist betätigt kleine Hebelchen zu seiner Rechten. „Jetzt fahren die Kisten raus!“, brüllt er in den Lärm. Tatsächlich. Das vier Meter hohe Magazin, das auf Rädern hinter uns her läuft, entleert sich. Wie auf eine Perlenschnur gefädelt, stehen nun 24 Kästen aus Holz und Stahl in der Transportgasse. Das Runde kann kommen.

Mit dem „Rabo 240“, einem Fahrzeug aus DDR-Zeiten, werden Obstkisten verteilt.
Mit dem „Rabo 240“, einem Fahrzeug aus DDR-Zeiten, werden Obstkisten verteilt. © Katja Frohberg
Behutsam füllen die Pflücker ihre Ernte in die Container.
Behutsam füllen die Pflücker ihre Ernte in die Container. © Katja Frohberg
Vorarbeiter Miroslaw überwacht die Qualität, auch mit solchen Ringen zur Messung der Fruchtgröße.
Vorarbeiter Miroslaw überwacht die Qualität, auch mit solchen Ringen zur Messung der Fruchtgröße. © Katja Frohberg
Angeschwemmte Äpfel vor der Packstraße.
Angeschwemmte Äpfel vor der Packstraße. © Katja Frohberg

Die Apfelernte bei der Erzeugergemeinschaft Borthener Obst läuft mit voller Kraft. Auf den Plantagen, insgesamt rund zehn Quadratkilometer, herrscht Gewusel. In bunten Schwärmen durchkämmen Pflückerkolonnen die Reihen. Die Betriebe wollen rund 35 000 Tonnen Äpfel einfahren. Das wären etwa dreitausend Tonnen weniger als letztes Mal – trotzdem keine schlechte Ernte, obwohl das Wetter in diesem Jahr nicht immer mitspielte.

Anzusehen ist das den Äpfeln der Sorte Idared nicht, die in dieser Anlage der Obstfarm Pietzsch & Winkler wachsen. Purpurrot und üppig hängen sie in den Baumkronen. Wolfgang Pietzsch, der Chef, schaut dennoch etwas besorgt unter seiner Schiebermütze. Die Größe der Früchte lässt etwas zu wünschen übrig, sagt er, eine Folge der großen Trockenheit im Sommer. Im Schnitt dürften etwa zehn Gramm pro Apfel fehlen. Wird er sein Ziel von 8 000 Tonnen trotzdem erreichen? Er wiegt den Kopf. „Es wird schwer.“

Zehn Gramm – klingt nach einer Kleinigkeit. Doch wie groß die Äpfel ausfallen, beeinflusst das Betriebsergebnis erheblich. Die Obstbauern streben Durchmesser zwischen 70 und 85 Millimetern an. Fünf Millimeter weniger Durchmesser bedeuten etwa 15 Prozent weniger Ertrag. Und: Kleinere Früchte sind schwerer zu pflücken als größere. Das mindert die Produktivität.

Mindestlohn nur für Fleißige

Das Runde kommt. Die Äpfel liegen in metallenen Trögen, die den Pflückern vor den Bäuchen hängen. Es sind Polen und in letzter Zeit immer mehr Rumänen. Sie beugen sich über die Kisten, lösen ein Gummiseil und der Stoffsack im Trog entleert sich. Die Arbeiter behandeln ihre Ernte fast wie rohe Eier. Eine Druckstelle würde genügen, um den hochwertigen Tafelapfel zum Fallobst zu degradieren, aus dem man nur noch Saft oder Mus machen kann.

Die Genossenschaft will möglichst viele Tafeläpfel in ihr Lager bringen, 75 bis 80 Prozent der Gesamternte, so lautet das Ziel. Um die Qualität nicht zu gefährden, werden die Kisten extra mit Kunststoffpolstern ausgekleidet. Wenn es nachts friert, so wie schon mehrmals diesen Monat, wartet man am folgenden Tag so lange, bis die unterkühlte Apfelhaut wieder aufgetaut ist. Andernfalls würde jeder Handgriff einen braunen Fleck hinterlassen.

In der Transportgasse steht Miroslaw. Der 58-Jährige aus Breslau in Niederschlesien hat keinen Sammeltrog umgehängt, sondern hält ein quittegelbes Notizbuch in der Hand. Der Pole arbeitet seit 21 Jahren für Pietzsch & Winkler. Er ist heute der Kolonnenführer. Er mustert die Apfelladungen, die seine Gruppe abliefert, passt auf, dass Blätter und Aststücke draußen bleiben, und ruft „Uwaga!“ – Achtung! – wenn er doch mal ein missgestaltetes Stück Obst zwischen den Tafeläpfeln entdeckt und es mit Schwung aus der Kiste befördert.

In seinem gelben Heft führt er Strichlisten über die Leistung der Erntehelfer. Sie erhalten Mindestlohn, aber nur, wenn das vorgegebene Soll erfüllt wird. Wie hoch es ist, sagen die Apfelbauern nicht. Das hängt von den konkreten Verhältnissen in der jeweiligen Plantage ab, heißt es. Ob ich dieses Soll schaffen würde, will ich wissen. Keine Chance. Für diesen anstrengenden Job braucht man Übung, erklärt man mir. Und die habe ich nicht.

Ortswechsel: ein gähnendes Schott, dahinter ein Gebirge aus vollen Obstkisten, neun Etagen hoch. Das ist eine von rund einhundert Kühlzellen im Lagerkomplex der Genossenschaft am Hauptsitz in Röhrsdorf. Allein dieser Raum hat Platz für mehr als 900 Kisten. Es ist kalt. Die Temperatur liegt bei einem Grad. Die Äpfel befinden sich im Tiefschlaf, erklärt Olaf Krieghoff, Obstbauberater, verantwortlich für die Einlagerung. „Sie sollen so wenig wie möglich atmen.“ Durch Temperaturregelung und Reduktion von Kohlendioxid und Sauerstoff wird der Stoffwechsel in den Früchten gedrosselt, Zucker und Säure bleiben erhalten und damit die Frische, wenn es sein muss, zwölf oder gar 14 Monate lang.

Hinüber zur Sortier- und Verpackungsanlage. Eine weite Halle, Förderbänder, Maschinen. Sie ist vorigen Herbst fertig geworden, gemeinsam mit dem neuen, vollautomatischen Hochregallager für sortierte Äpfel – insgesamt eine Investition in zweistelliger Millionenhöhe. Jetzt rollt hier die neue Apfelernte auf acht Taktstraßen vom Band. Die Früchte werden im Wasserbad angespült, damit sie so kurz vorm Abtransport nicht doch noch eine Blessur abkriegen. Dann wandern sie auf Paletten, in Plastestiegen, Pappkisten, Schälchen, Körbe, Beutel oder Netze. Jede Packlinie kann pro Stunde bis zu eine Tonne Äpfel einpacken.

Mus schlecken statt zubeißen?

Und die beliebteste Verpackung? Die gibt es nicht, sagt Jörg Hägner, Landwirt und promovierter Ökonom, der bei Planung und Bau dieser Anlage mitgewirkt hat und die Genossenschaft in vielen Dingen berät. Der Kunde entscheidet immer wieder neu. Fest steht, dass der Apfelverbrauch in Deutschland zurückgegangen ist. Die junge Generation scheint von der Urform des Apfelessens abzurücken. Musprodukte, die man Smoothies nennt, und Säfte sind im Kommen. Die Obstbauern werden ihren Export-Anteil steigern müssen, denkt Hägner. Die Vertriebsgesellschaft liefert derzeit zu 85 Prozent ins Inland, meist an große Einzelhandelsketten und Verarbeiter.

Und wie werden die Preise sein dieses Jahr? Besser als im vorigen jedenfalls, da ist sich Jörg Hägner sicher. Prognosen wären verfrüht, sagt er. „Der Bauer zählt die Küken auch erst, wenn sie geschlüpft sind.“