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Warten auf die erste Dattel

Ramadan in Sachsen? Auch das gibt’s. Mittlerweile leben hier einige Tausend Muslime. Für viele ist es der erste friedliche Ramadan seit Jahren. Ein Besuch zum Fastenbrechen im Görlitzer Stadtpark.

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Von Frank Seibel

Schwups, schon ist die Dattel weg. Gerade ist der erste Atemzug des Muezzins aus dem Smartphone des Vaters gekrochen, da hat Osama schon zugeschnappt. 21.19 Uhr – der Moment, auf den nicht nur der 15-Jährige den ganzen Tag gewartet hat. Die Sonne ist verschwunden, der Fastentag vorüber. Einer der längsten Fastentage, die Osama, seine beiden Brüder, aber auch seine Eltern je erlebt haben. Nicht nur, weil Sommer ist und die Tage sich ohnehin scheinbar unendlich dehnen, sondern auch, weil sie noch nie so weit im Norden Ramadan gefeiert haben, den islamischen Fastenmonat. Hier sind die Tage länger als im arabischen Raum.

Vor einem Jahr noch zuckten sie regelmäßig zusammen, weil wieder eine Bombe oder Rakete in unmittelbarer Nachbarschaft eingeschlagen war. In Tripoli war das, direkt neben dem Flughafen der libyschen Hauptstadt. Jetzt sitzen Osama, Qasai, Loay und ihre Eltern Linda und Munir auf einer großen Wiese im Görlitzer Stadtpark, ganz nah an der Neiße. Sie sitzen auf Decken des Deutschen Roten Kreuzes, und sie hätten sich nicht getraut, hier, in aller Öffentlichkeit, einmal das Fastenbrechen zu feiern, das der tägliche Höhepunkt im Ramadan ist; wenn ihre deutschen Betreuer vom DRK nicht dabei wären.

„Die meisten haben Angst, dass die Einheimischen irritiert sein könnten, wenn eine Frau mit Kopftuch im Park einen Picknick-Tisch decken würde“, sagt Ciftci Fikret, der den Flüchtlingen aus den arabischen Ländern als Dolmetscher hilft. Und wenn sich erst die Männer gen Mekka verneigen, dorthin, wo die Görlitzer erst einmal nur Rauschwalde vermuten ...

Jetzt aber herrscht feierliche Stimmung auf der Wiese im Stadtpark. Ein bisschen wie Weihnachten vor der Bescherung, sagt einer vom Roten Kreuz. Sechzehneinhalb Stunden haben die fünf Palästinenser und die anderen Muslime, die seit einigen Monaten in Görlitz leben, nichts gegessen und nichts getrunken. Und das bei annähernd 30 Grad. Vormittags ist das kein Problem, sagt Linda, die Mutter. Ein rotes Kopftuch schmückt sie, hält sie nicht gefangen. Wenn der Wille noch frisch und stark ist und der Durst noch nicht ermüdend, dann verlässt sie ihre Wohnung in der Görlitzer Innenstadt, um einzukaufen. Vieles findet sie in den Supermärkten vor Ort. Aber für manches muss sie auf andere Quellen zurückgreifen. Dresden reicht als Marktplatz für spezielle Wünsche nicht immer aus. Aber in Berlin bekommt man alles. Auch „halal“ geschlachtete Hähnchen. Halal ist eine bestimmte Art, Tiere zu schlachten, ähnlich wie „koscher“ bei den Juden. Eine Regel besagt, dass Tiere immer per Hand getötet werden, nicht maschinell. Das hat, sagt Ciftci Fikret, der auch ein Kulturvermittler ist, auch etwas mit einer Wertschätzung zu tun. Tiere sind keine Gegenstände, die man beliebig herstellen oder zerstören kann. Auch manche Gewürze sind in Berlin eher zu finden als in der Oberlausitz.

Wenn der Tag noch jung ist und der Wille zum Fasten unumstößlich, dann nimmt Linda Al Manasri ihre Einkäufe, und beginnt zu kochen und zu backen. Reis mit Gewürzen wie Safran und Paprika, dazu Cashewkerne und Rosinen. Hähnchenkeulen mit Rosenpaprika und einem Hauch Knoblauch ... Man muss sehr stark sein, um nicht zwischendurch zu naschen.

Linda ist stark. Ein bisschen unterstreicht sie das mit ihren Augenbrauen: zwei gerade schwarze Balken in einem sanften, runden Gesicht und Augen, die Fröhlichkeit mit einem Schuss Melancholie ausstrahlen. Sie und ihre ganze Familie mussten stark sein, um überhaupt so weit zu kommen. Aus dem Libanon nach Libyen, von Libyen übers Mittelmeer nach Italien, dann weiter bis nach Deutschland, nach Görlitz. Eigentlich sollte Libyen das Land sein, in dem sie mit ihrem Mann und den drei Jungs eine bessere Zukunft fänden als im Libanon, wo sie bis dahin lebten. Endlich Arbeit für Munir, der unter anderem Fliesenleger und Friseur war und im Libanon ein Café betrieben hatte. Und für Linda, die gelernte Kosmetikerin ist. Das war der Traum, als die Familie vom Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen hörte und die Koffer packte für ein neues Leben. Doch dann versank das Hoffnungsland im Chaos, und den Ramadan vor einem Jahr erlebten die fünf in ständiger Angst, dass eine Bombe mal nicht den Flughafen treffen könnte, nicht ein Haus in der Nachbarschaft, sondern ihre eigene Wohnung.

Linda und Munir packten wieder die Koffer und die drei Jungs. Das Ziel: zunächst der Hafen von Tripoli. Dort lagen zwei große Fischerboote im Wasser. Zwei Boote für 700 Menschen, die sich in einer Nacht im Spätsommer vorigen Jahres auf den Weg nach Europa machen sollten. Als Linda von der Überfahrt erzählt, gerät ihre Stimme ins Stocken. Mitten auf dem Meer hätten ihre Schleuser die beiden Boote einfach alleingelassen, ohne Navigationsgeräte. Sie erzählt von Wellen, vom Wind, vom schwankenden Boot, von der Orientierungslosigkeit. Sie holt ihr Smartphone hervor, zeigt ein Video: Frauen, Kinder, Männer, eng zusammengepfercht, alles wackelt, schaukelt, Wassertropfen auf dem Kamerabild. Eine Frau übergibt sich, Stöhnen, Schreie, Ausrufe. Auf einmal sind die Horrornachrichten vom Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer noch viel näher als ohnehin schon. Immer mehr Wasser im Boot, „bis zu den Knien saßen wir im Wasser“, sagt Linda. Und dann erzählt sie, wie sie das zweite Boot haben sinken sehen. 350 Menschen murmelt sie. Das Flugzeug, von dem aus die Boote entdeckt wurden, sei zu spät gekommen; nur 30 Frauen, Kinder, Männer wurden gerettet. Und in letzter Minute erst kam ein italienisches Militärboot, um ihr eigenes Boot zu stabilisieren und die Menschen in Sicherheit zu bringen.

All das wirkt ganz weit weg, hier im Görlitzer Stadtpark, wo die Dämmerung hereinbricht und ein friedlicher Fastentag in ein feierliches Abendessen mündet. Nur die Rot-Kreuz-Decken erinnern in diesem Moment daran, dass die Familie aus Arabien noch immer nicht am Ziel ist. Noch warten sie auf eine Entscheidung darüber, ob ihnen Asyl gewährt wird. „Aber jetzt sind wir in Sicherheit“, sagt Munir Alhalem. Deswegen sei dieser Ramadan ein besonderer; ein guter und friedlicher. So soll es sein, denn die Fastenzeit bringt nicht nur Entbehrung mit sich, sie soll auch helfen, sich zu besinnen, zur Ruhe zu kommen und sich auf das Wesentliche im Leben zu konzentrieren. Darin gleicht der Ramadan der Fastenzeit für die Christen in den Wochen vor Ostern.

Weil niemand auch nur eine Minute zu lang fasten will und hier kein Minarett zu finden ist, an dessen Spitze der Muezzin ein Licht entzündet, sobald er die Sonne am Horizont versinken sieht, hilft moderne Technik. Ciftci Fikrets Tipp: www.gebetszeiten.de. Auf dieser Internetseite finden sich minutiös alle Zeitangaben; alle erdenklichen Orte sind dort aufgeführt, auch Görlitz. Auch, wenn es erst seit einem Jahr hier überhaupt Menschen gibt, die das interessiert. Die Handvoll Türken ausgenommen, die hier Dönerbuden betreiben.

Vor allem der Verzicht aufs Trinken ist eine Herausforderung. Osamas Lippen waren schon ganz weiß, bevor er die erste Dattel und den ersten Schluck Wasser zu sich nahm. Diese Form des Fastens hat eine spezielle Bedeutung, sagt Fikret. „Unsere Kultur ist in Wüstenregionen entstanden. Dort kann es vorkommen, dass man längere Phasen ohne einen Tropfen Wasser auskommen muss.“ So wird hier um 21.19 Uhr der erste kleine Schluck zu einem großen, seit Stunden ersehnten Geschenk.

Die Jungs müssten noch nicht fasten. Aber Osama, Qasai und Loay, 15, 14 und 7 Jahre alt, ziehen trotzdem mit. „Die Kinder sind stolz, wenn sie genauso gut durchhalten wie die Erwachsenen“, sagt Munir Alhalem. Das ist für die Jungs zurzeit sogar schwerer als für die Eltern. Denn alle drei gehen in Görlitz zur Schule, während die Eltern allen Anfechtungen aus dem Weg gehen können, wenn sie möchten. Noch warten sie auf eine Möglichkeit zu arbeiten. Die Mitschüler von Osama, Qasai und Loay sind ziemlich fair, sagen die Jungs, die in den vergangenen drei Monaten schon gut Deutsch gelernt haben. Manche ziehen sich mit ihrem Pausenbrot zurück, so dass die jungen Muslime das Essen nicht sehen. Manche, erzählt Osama, halten sich sogar selbst zurück mit dem Essen. Das sind schöne Erfahrungen. Denn insgesamt sind die Alhalems noch unsicher. Was wäre, wenn sich die Männer zum Gebet nicht zurückzögen, sondern sich mitten auf der Wiese gen Mekka verneigen würden? Aber sie fragen sich auch, ob sie selbst Fehler machen. Viele Dinge haben für Muslime eine besondere Bedeutung, sagt Ciftci Fikret. So versuchen sie, auch mit den Symbolen achtsam umzugehen, die den Menschen hierzulande wichtig sind. „Normalerweise würde ich mich nicht auf diese Decke setzen, weil hier ein Kreuz drauf ist“, sagt Fikret. „Ich weiß, dass das den Christen heilig ist.“