Merken

War der Prozess des Jahrhunderts ein Justizbetrug?

Vor 80 Jahren wurde das Lindbergh-Baby ermordet. Ein Kamenzer starb dafür auf dem elektrischen Stuhl. Nun taucht der Fall im Eastwood-Film „J. Edgar“ auf.

Teilen
Folgen

Von Frank Oehl

Für die Mehrheit der Kamenzer steht fest, dass Richard Hauptmann am 3. April 1936 in Trenton/New Jersey unschuldig auf dem elektrischen Stuhl gelandet war. Erst jetzt wieder wurden sie darin bestärkt – von Staranwalt Robert R. Bryan, einem der schärfsten Gegner der Todesstrafe in den USA wie in der Welt. Auf einem Forum sprach der Kalifornier, der sogar Mumia Abu-Jamal aus dem Todestrakt geholt hat, über den „Justizbetrug“ an einem Kamenzer, der endlich rehabilitiert gehöre. Noch immer ist Hauptmann ein Trauma der Amerikaner, was auch der Clint-Eastwood-Film „J. Edgar“ beweist, der gerade in den Kinos läuft.

Der Hintergrund: Am 1. März 1932 wurde der Erstgeborene des Atlantikfliegers Charles Lindbergh in Hopewell, New Jersey, entführt. Nach der Lösegeldübergabe fand man das Kind ein paar Wochen später halbverwest ganz in der Nähe des Lindberghschen Anwesens. Das Verbrechen schockierte die USA wie zuvor kaum ein anderes. Aufklärung und Sühne wurden von den Massenmedien zu einem Staatsakt erklärt. Ermittlungserfolge aber blieben zunächst aus.

Bis 1934 eine heiße Spur auftauchte. Richard Hauptmann, ein elf Jahre zuvor illegal in die USA eingereister Kamenzer, bezahlte eine Tankrechnung in der Bronx, wo er wohnte, mit einer registrierten Dollarnote aus dem Lösegeld. Er wurde verhaftet, und als sich in einem Hauptmannschen Nebengelass etwa ein Drittel der Lösegeldsumme fand, stand für ein ganzes Land fest: Hauptmann ist schuldig.

Anwalt Robert R. Bryan, der fast fünfzig Jahre später Frau Hauptmann in ihrem Rehabilitationsbegehren vertrat, fand heraus, dass die Ermittler freilich nicht viel mehr als dieses starke Lösegeld-Indiz gegen Hauptmann in der Hand hatten. Und seine kriminelle Vergangenheit in Kamenz, wo er nach dem 1. Weltkrieg als Dieb und Straßenräuber aufgefallen war und dafür in Bautzen eingesessen hatte. In New York war er ein angesehener Tischler, der sich mit Frau und Sohn eine solide Existenz aufgebaut hatte. Bis zur Verhaftung.

Die Polizeibehörden von New Jersey und New York brauchten nicht nur Indizien, sondern Beweise gegen Hauptmann. Heute steht fest, dass ihnen dafür alle Mittel recht waren. Mögliche Zeugen der Anklage wie der Verteidigung wurden bearbeitet, um Druck auf Hauptmann zu erzeugen. Ihm wurde das „Verbrechen des Jahrhunderts“ zur Last gelegt, und den zwölf Geschworenen des am 2. Januar 1935 beginnenden Prozesses dröhnten die „Tötet Hauptmann!“-Rufe des Volkes auf der Straße in den Ohren. Allerdings beharrte Hauptmann bis zuletzt darauf, das Geld im Nachlass eines verstorbenen Geschäftsfreundes zufällig gefunden und weder das Lindbergh-Haus noch das Baby jemals gesehen zu haben. Die Hoffnung der Ermittler, den Kamenzer Auswanderer angesichts des elektrischen Stuhles zum Eingeständnis zumindest der Mittäterschaft zu bringen, erfüllten sich nicht. Er starb ohne ein Wort, nachdem sein Körper drei Minuten lang mit bis zu 2.000 Volt malträtiert worden war. Als „Sündenbock“, wie er sich selbst sah.

„Mutter, ich bin unschuldig“, so ist die Autobiografie Hauptmanns betitelt, die er im Todestrakt schrieb. Sie erschien 1937 in Kamenz und wurde von den Nazis sofort verboten. Die sahen schon zuvor in Hauptmann keine „unterstützungswerte Person“. Mit Lindbergh verband sie mehr. Der war später gegen den Eintritt der USA in den 2. Weltkrieg und wandte sich ab vom Land. Und in Kamenz denkt man nun über eine Neuauflage der Hauptmann-Biografie nach.