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Vom Hubschrauber gerettet

Ein kleiner Junge aus Wülknitz kann wieder glücklich spielen. Das verdankt er auch besonders engagierten Rettungskräften.

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© Uwe Schmalenbach

Von Uwe Schmalenbach

„Mit so einem bin ich geflogen und die Mama“: Für ein Kind, das noch nicht einmal vier Jahre alt ist, erinnert sich Elias Hiemer erstaunlich gut daran, dass Christoph 38 für ihn im Einsatz war. An viele unschöne Details seines Lebens denkt er erfreulicherweise nicht zurück. Elias ist fröhlich, aufgeweckt, tobt mit seinem rot-weißen Spielzeughubschrauber durchs Wohnzimmer der Omi in Wülknitz, rauf aufs Sofa und wieder runter. Kinder eben.

Elias und seine Mutter Melanie Hiemer aus Wülknitz.
Elias und seine Mutter Melanie Hiemer aus Wülknitz. © Uwe Schmalenbach

Es war nicht immer so, dass Elias quietschfidel gewesen ist. Seine Mutti Melanie Hiemer hat sorgenvolle Momente hinter sich, seit Elias 2014 zur Welt kam – als „Frühchen“, zwölf Wochen zu zeitig. An seinem zweiten Lebenstag erlitt der Neugeborene eine Hirnblutung. Sie war der Grund für eine Entwicklungsverzögerung. Die Blutung im Kopf hatte noch erheblichere Folgen: Ihm musste im Dresdner Uniklinikum durch ein Loch im Kopf ein Katheter in die Hirnwasserkammer gelegt werden.

Am 5. Dezember 2016 war es nach mehreren Zwischenfällen, Rettungswageneinsätzen und Klinikaufenthalten seit Elias’ Geburt so weit, dass die Mutter abermals den Notruf wählte. Sandra Ulrich gehörte damals zur Besatzung des Rettungswagens, den die Leitstelle von Gröditz aus zu Familie Hiemer entsandte. „Ja, da waren wir als Erste vor Ort“, blickt die Notfallsanitäterin zurück. „,Zweijähriges Kind ist nicht ansprechbar‘, lautete die Alarmierung. Wir kamen an und fanden Elias auf dem Boden ...“ Und dann sei relativ schnell klar gewesen, „dass wir den Rettungshubschrauber brauchen – damit es schnell und schonend geht.“ Daraufhin rief die Notfallsanitäterin die DRF Luftrettung zu Hilfe.“

Elias hatte bis zu jenen Tagen noch nicht viel gesprochen. Seine Mutter erzählt: „Wir sind am 26. Dezember 2016 aus dem Krankenhaus gekommen. Eine Woche später fing er richtig zu reden an – vom Hubschrauber, von den Ohrenschützern, die er beim Flug aufhatte. Da habe ich mich gewundert; vorher konnte er nur Opa, Mama, Oma sagen.“

Melanie Hiemer wischt sich ein Tränchen fort. Die ersten vier Lebensjahre ihres Sohnes waren nicht immer einfach. Die Geburt erfolgte zwölf Wochen zu zeitig, am zweiten Lebenstag erlitt der Neugeborene eine beidseitige Hirnblutung. Die Folge: eine Abflussstörung des Hirnwassers. Da zu viel Flüssigkeit im Kopf Folgen wie eine akute und mitunter lebensbedrohliche Hirndrucksteigerung nach sich ziehen kann, fiel der Entschluss, dem Säugling ein „Shunt-System“ zu legen. „Das ist im Grunde ein Katheter, mit dem die überschüssige Flüssigkeit vom Gehirn in den Bauchraum geleitet wird“, erläutert Heiko Roth, Notfallsanitäter der DRF Luftrettung. Er lernte Elias beim Hubschraubereinsatz als Patienten kennen. – Nach dem Eingriff und einem längeren Krankenhausaufenthalt konnten Melanie Hiemer und ihr Baby die Klinik erstmals am 13. September 2014 verlassen. „Elias wog damals 2,2 Kilogramm“, erinnert sich die Mutter. Dass wenig später eine Kontrolle der Shunt-Anlage anstand, war für sie zunächst Routine. Doch im Ultraschallbild wurde festgestellt: Elias’ Ableitung funktioniert nicht richtig. So kam das Kind nur kurz nach der Entlassung Mitte September erneut ins Krankenhaus. Das System in seinem Kopf wurde neu angelegt.

„Wir waren zwei Jahre lang ganz zufrieden – bis der November 2016 kam“, schildert Melanie Hiemer. Nach dem Aufwachen erbrach sich Elias. „Ich hatte schon ein ganz komisches Gefühl. Das war kein normales Brechen, wie es bei kleinen Kindern mal vorkommen kann! Er war so apathisch…“ Als Elias’ Zustand den ganzen Tag hindurch für Besorgnis sorgte, rief die Mutti den Rettungswagen. Der brachte ihn ins Krankenhaus nach Riesa. Das durfte Elias am 2. Dezember wieder verlassen. Doch daheim stellte sich die Situation fortgesetzt kritisch dar. „Gleich nach dem Mittagsschlaf ging es wieder los! Ich bekam Panik. Er lag erneut da und erbrach sich nur – ich habe abermals den Rettungsdienst gerufen“, berichtet Melanie Hiemer. Noch einmal musste Elias kurz ins Krankenhaus.

Und dann kam der 5. Dezember. Elias ging es zusehends schlechter. Als der alarmierte Rettungsdienst aus Gröditz angefahren kam, muss Elias schlimm ausgesehen haben. Notfallsanitäterin Sandra Ulrich war dabei. Es sei bei ihrem Eintreffen in Wülknitz relativ klar gewesen, dass das Kind ein größeres Krankenhaus brauchte. „Darum habe ich per Funk bei der Rettungsleitstelle angefragt: ‚Kann der Heli den Einsatz fliegen?‘“, erklärt die Notfallsanitäterin. „Als Antwort auf unseren Funkspruch“, kann sie heute schmunzeln, „hörten wir nur wenige Minuten später Christoph 38 herannahen …“

Zu dessen Besatzung gehörte neben Pilot Peter Flor und Notarzt Dr. Christian Kleber Heiko Roth. Er ist regelmäßig auf der Luftrettungsstation Dresden im Dienst, von wo aus Christoph 38 zu seinen Einsätzen in ganz Sachsen abhebt. Die Dresdner Luftretter bereiteten Elias auf den Transport vor, luden ihn in die Maschine. „Dann haben wir ihn in die Uniklinik, direkt in die Notaufnahme gebracht“, erzählt Roth. Die Mutti durfte mitfliegen. „Eigentlich habe ich ja Flugangst.“ Als Elias die Uniklinik nach vier Tagen stabiler verlassen konnte, fingen die Beschwerden von neuem an. Melanie Hiemer fuhr mit ihm abermals in die Klinik, die Ärzte, so berichtet sie, tippten damals auf einen Magen-Darm-Infekt. Zwei Wochen lang dauerte das Wechselspiel an. Rein ins Krankenhaus, raus, wieder rein. In ihrer Verzweiflung fuhr die Mutter Elias zwischendurch auch nach Leipzig, um ihn ab dem 15. Dezember in der dortigen Kinderklinik untersuchen zu lassen, wo er bis zum 19. blieb.

Doch alles brachte keine Lösung. Es war inzwischen drei Tage vor Weihnachten. „Da wurde es ganz schlimm.“ So schlimm, dass die Mutter den Rettungswagen nochmals rief. Die Besatzung bat die Kollegen der DRF Luftrettung zum zweiten Mal um Unterstützung. Als Christoph 38 erneut auf einer Wiese hinter dem Haus der Familie in Wülknitz landete, war Heiko Roth wieder im Dienst. Er erinnert sich, dass Elias weit schlechter aussah als beim ersten Einsatz in Wülknitz: „Da war er fast bewusstlos.“ Die Luftretter luden den Jungen wiederum in ihre rot-weiße EC 135 und benötigten kaum 15 Minuten, um ihn zur Dresdner Uniklinik zurückzubringen.

Die Fahrzeit auf der Straße hätte bei deutlich über einer Stunde gelegen. Für Elias stand die nächste Operation an: „Einen Tag vor Heiligabend habe ich ihn um acht Uhr früh am OP-Saal abgegeben – schweren Herzens“, sagt Melanie H. Doch der Eingriff brachte den Durchbruch! Denn Grund für die vielen Komplikationen, die insgesamt fünf Rettungswagen-Einsätze und die zweifache Anforderung des Hubschraubers der DRF Luftrettung auslösten, war das Ventil in Elias’ Kopf! Es verstopfte mehrmals, sodass das Hirnwasser nicht abfließen konnte und der Hirndruck wieder zu steigen begann. Seit der OP arbeitet das Ventil perfekt. Zwar fand das „Weihnachtsfest“ für die Familie 2016 auf der Station der Kinderchirurgie in Dresden statt. Doch seit der Entlassung am 26. Dezember ist dafür – bis heute – alles gut.

Melanie Hiemer möchte sich bei allen Einsatzkräften, den Ärzten des DRK und vor allem auch bei der DRF Luftrettung bedanken – von ganzem Herzen. „Man hat es als Alleinerziehende mit so einem Kind nicht einfach und muss ständig neue Hürden überwinden“, sagt die Mutter. „Gerade jetzt, als ich mit meinem Sohn zur Reha war, bekam ich die Kündigung vom Arbeitgeber. Man muss immer kämpfen.“

Und Elias? Der Junge lacht viel – und saust mit seinem kleinen rot-weißen Hubschrauber durch die Bude. Dass er „in genau so einem“ saß, vergisst er offenbar sein Leben lang nicht. „Wir rufen Christoph 38 oft hinzu“, sagt Sandra Ulrich. „Sogar damals, gleich am nächsten Tag, nachdem wir den ersten Einsatz mit Elias hatten.“ Damals war eine Bäckerin mit der Hand in eine Teigmaschine geraten, die ihr die Hand zerteilte. „Auch da war klar, dass die Patientin schnell in ein Zentrum für Handchirurgie muss“, sagt die Notfallsanitäterin. „Das ist ein Einsatz für den Hubschrauber.“ Nach einer kurzen Pause fügt die erfahrene Rot-Kreuz-Mitarbeiterin hinzu: „Die DRF Luftrettung brauchen wir eigentlich jeden Tag in unserer Region.“

Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung des Upress-Verlags aus der Zeitschrift „Punktlandung“ (Nr. 1/18) über die Arbeit der DRF Luftrettung entnommen.