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Vierzig Schüler in einem Kurs

Der Alltag an sächsischen Schulen ist geprägt von Lehrermangel und Leistungsstress. Doch brave Schafe macht das nicht aus den jungen Leuten. Ein Beitrag zur Bildungsdebatte von Hannah Kaskel, Abiturientin in Dresden.

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© dieKLEINERT.de/Sabine Voigt

Von Hannah Kaskel

Das klingt gut: „Kinder und Jugendliche, die in Sachsen zur Schule gehen, sowie Studenten an sächsischen Hochschulen können sich glücklich schätzen: Ihr Bundesland verfügt über das beste Bildungssystem in Deutschland.“ Dieses Zitat stammt aus einem Artikel auf dem Online-Portal Spiegel Online vom August 2016. Der Artikel trug die Überschrift: „Welches Bundesland hat die beste Bildung?“

Hannah Kaskel, 17, ist Abiturientin am Gymnasium Dresden Plauen und belegt die Leistungskurse Mathe und Englisch. Im Jahr 2016 arbeitete sie mit bei der Schüler-SZ.
Hannah Kaskel, 17, ist Abiturientin am Gymnasium Dresden Plauen und belegt die Leistungskurse Mathe und Englisch. Im Jahr 2016 arbeitete sie mit bei der Schüler-SZ. © SZ

Montagmorgen nach den Ferien. Ein großer Raum mit engstehenden Bankreihen erwartet die Matheleistungskursschüler der zwölften Klasse. Alle. Vierzig Leute in einem Raum. Uns wird erklärt, dass das die Situation für die nächste Woche sein wird, denn eine Lehrerin ist krank, und es werde keinen Ersatz geben. Da ein paar Schüler unseren Jahrgang letztes Jahr verlassen haben und es nicht die Lehrerkapazität gibt, um einen Kurs mit zehn Schülern zu unterrichten, wurde dieser nun für die zwölfte Klasse auf die anderen beiden Matheleistungskurse aufgeteilt. Zwei Matheleistungskurse werden nun für eine Woche als einer unterrichtet. Das ist die Realität.

Das sächsische Schulsystem steht in der Kritik. Viele fünfte Klassen haben keine Schulbücher, der Mangel an Lehrkräften wird immer deutlicher. Das fällt natürlich nicht nur der Öffentlichkeit auf. Vermutlich vor allem unter Schülern bemerkt man die Folgen. Im Alltag eines Schülers bedeutet Lehrermangel, dass die Krankheit eines Religionslehrers dazu führt, dass allen Religionsschülern ein Halbjahr Unterricht fehlt. Oder eben, dass vorerst vierzig Leuten in einem Raum mit engen Bänken die kumulierte Wahrscheinlichkeit erklärt wird. Frontalunterricht vom Feinsten.

Zwei Stunden Ausfall eines Faches sind für den Schüler eventuell nicht weiter problematisch. Doch auf Dauer fängt man an, sich Sorgen um die Zeitplanung zu machen, und es wird klar: Bei diesen vollgepackten Lehrplänen zählt jede Stunde.

Das Problem besteht schon seit Beginn meiner Schullaufbahn. Aber gerade jetzt, in der zwölften Klasse, gibt mir der massenhafte Ausfall zu denken. Fast jeder Lehrer drängt damit, dass schon in acht Monaten die Prüfungen anstehen. In einzelnen Fächern wird der Unterricht minutiös geplant; da gibt es kein „Na gut, dann machen wir das in der nächsten Stunde“. Denn wenn es dazu kommen würde, würde der Kurs hinterherhängen.

Folge des Lehrkräftemangels ist auch die Verschlechterung der Unterrichtsqualität. Quereinsteiger sollen als Ersatz dienen. Selbst plötzlicher Lehrerwechsel bringt Unruhe in den Unterrichtsplan, weil die Vertretungen oft nicht wissen, woran sie anknüpfen sollen.

Ich erinnere mich an meine Grundschulzeit, in der einfach alles drunter- und drüberging. Innerhalb von vier Jahren hatten wir drei verschiedene Klassenlehrer, weil es nicht möglich schien, einen langfristigen Ersatz für die plötzlich erkrankte erste Lehrerin zu finden. Gerade in der Grundschule, in der der Klassenlehrer noch eine wichtige Bezugsperson ist, sollte so etwas eigentlich nicht passieren.

Trotz allem müssen wir uns aber auch von dem Klischee-Thema Lehrermangel lösen und ein mindestens genauso wichtiges Thema betrachten: den Lehrplan selbst. In dessen Rahmen sollen wir uns Themen und Methoden aneignen. Der Lehrplan legt wert auf Operatoren – das sind Anleitungen, die uns zeigen, wie wir verschiedene Aufgabenstellungen bewältigen können. Im Unterricht werden etwa verschiedenste Arten der Gruppenarbeit genutzt.

Jetzt sollte man meinen: Dann erfüllt der Lehrplan doch seinen Zweck! Die Schüler lernen effektiv und sind gut vorbereitet auf jede Art Aufgaben! Falsch.

Denn der Lehrplan ist in den meisten Fächern so eng gestrickt, dass nicht wirklich Zeit bleibt, um auf methodisches und pädagogisch wertvolles Lernen zu achten. Entgegen allen Äußerungen, Methodenlernen sei im Lehrplan genauso gewichtet wie das Faktenlernen, muss ich sagen: In der Praxis ist das nicht so. Der Fokus liegt immer noch darauf, das Material verschiedenster Fächer zu lernen und zu behalten. Dabei wird wenig auf das „Wie“ eingegangen. Maximal in gesellschaftswissenschaftlichen Fächern werden Lernmethoden besprochen. Oft heißt es einfach: „Wiederholt den Stoff jeden Nachmittag fünfzehn Minuten, dann habt ihr ihn bis zum Test drauf!“ Würde ich das für jedes Fach, in dem mir das geraten wurde, tun, säße ich jeden Nachmittag etwa zwei Stunden daran. Die anderen Hausaufgaben noch nicht mit eingerechnet.

Hier kommt ein weiterer wichtiger Punkt ins Spiel: Der Stress, unter dem viele Schüler stehen. Die meisten investieren viel Zeit in ihre schulischen Erfolge und opfern Nachmittage und Abende – manchmal sogar Nächte – für Hausaufgaben oder zum Lernen, ohne dass man sie beschuldigen könnte, die Aufgaben bis zuletzt aufgeschoben zu haben.

Ich selbst bin am Montag von 8 bis 18 Uhr in der Schule und muss danach eventuell noch Hausaufgaben machen oder lernen. Im Prinzip lernt es sich an unserer Schule gut. Doch die Masse an Lernstoff ist oft erschreckend, das sehen auch andere Schüler aus meinem Jahrgang so. Wenn jemand darüber witzelt, der Lehrplan solle sich ein wenig mehr beschränken, damit wir uns den Burn-out für das Arbeitsleben aufsparen können, sollte sich lieber Gedanken über alternative Lehrinhalte oder Beschränkungen bezüglich gewisser Themenbereiche gemacht werden. Trotz des Stresses oder vielleicht gerade deswegen, weil wir uns so darauf freuen, ihn endlich hinter uns zu haben, sind die meisten Schüler, die ich nach ihrer Meinung gefragt habe, aber froh, das G8-Programm zu haben. Hier muss man betonen: Es ehrt das sächsische Bildungsministerium, dass es sich nicht davon abbringen ließ, als über die Einführung von G9, also der Oberstufe bis Klasse 13, diskutiert wurde. Zwar könnte man denken, es sei leichter, die Abiturinhalte auf drei Jahre zu verteilen, anstatt in zwei Jahren durch sie hindurchzurasen. Doch letztlich käme es auf das Gleiche heraus: Pro Grundkurs eine Klausur und pro Leistungskurs zwei Klausuren im Halbjahr, dazu noch Tests in jedem Fach. Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich weniger stressig wäre.

Auch die Unflexibilität des Lehrplans wurde ein wenig behoben, indem Schüler ab diesem Jahr einen Biologieleistungskurs wählen können und eine Naturwissenschaft oder eine Fremdsprache nicht als Grundkurs belegen müssen, wodurch sie auch nur noch 33 anstatt 35 Wochenstunden haben. Die Neuregelungen haben also schon zu individuellerem Lernen und zeitlicher Entlastung geführt. Was allerdings bisher dringend fehlt: „Haushaltsbezogene“ Informationen im Unterricht. Fragen wie „Wie mache ich meine Steuererklärung?“ werden in der Schule nicht angeschnitten. Vielen Gymnasiasten fehlt ein alltagsbezogenes Fach. Ich denke, die Integrierung dieser Themen in das Fach GRW (Gesellschaft/Wirtschaft/Recht) wäre eine gute Option.

Trotz dieser vielen Kritikpunkte muss ich aber sagen: Der Lehrplan hat sein großes Ziel, uns allgemein zu bilden, nicht verfehlt. Die meisten Schüler, die ich kenne, sind mit der Kompetenzvermittlung an sich zufrieden.

Es ist klar, dass nicht immer alles rundläuft und es strukturelle Probleme gibt, die man beheben oder wenigstens mildern sollte. Aber wir bekommen in der Schule beigebracht, eigenständig zu lernen, und uns wird dabei geholfen, eine Grundlage zu schaffen, auf der wir uns eine Meinung bilden und sie auch äußern können. Ich kann nicht für alle Schüler sprechen, nicht für jeden Jahrgang und erst recht nicht für jede Schule in Sachsen. Aber so viel lässt sich sagen: Brave Staatsbürger, die nicht hinterfragen, sind wir sicher nicht!

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die Denkanstöße geben und zur Diskussion anregen sollen.