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Viel zu viel Bürokratie!

Pflegekräfte müssen jeden Handgriff dokumentieren. Völlig übertrieben, wie ein neues Modell in Bischofswerda zeigt.

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© Steffen Unger

Von Jana Ulbrich

Anja Sachs ist seit anderthalb Stunden im Dienst. Sie hatte noch keine Minute zum Aufblicken. In der Nachmittagsschicht sind die Pflegekräfte nur zu dritt. Anja Sachs arbeitet in der Wohngruppe „Zur Wesenitz“ im Bischofswerdaer Seniorenwohnhaus der Oberlausitz Pflegeheim und Kurzzeitpflege gGmbH. Ihre Station hat 34 Bewohner, acht sind bettlägerig, zwei sitzen im Rollstuhl, die meisten anderen können nur noch mithilfe der Pflegekräfte laufen. Alle haben Demenz.

Anja Sachs hat den Bewohnern, die noch aufstehen können, vom Mittagsschlaf aus den Betten geholfen und sie an die Tische zum Kaffeetrinken gebracht. Jetzt hilft sie beim Essen. Herr M. muss noch einen Schluck trinken. Frau G. muss zur Toilette. Das kann jetzt nicht warten. Herr L. ist aufgestanden und weiß nicht mehr, wo er hinwollte. Behutsam führt Anja Sachs ihn an den Tisch zurück. Reihum reicht sie die Kaffeetassen. Dann bringt sie Herrn L. zur Toilette, danach Frau S. Die Toilettengänge sind wichtig. Jeder Bewohner wird dazu ermuntert. „Aktivierende Pflege“ heißt das. Die Mitarbeiter wollen den Bewohnern ihre Selbstständigkeit so lange wie möglich erhalten – auch wenn das viel Arbeit macht und Zeit kostet.

Anja Sachs läuft unaufhörlich die langen Gänge entlang. Sie wechselt Schmerzpflaster, bringt Frau K. zum Baden, setzt im Dienstzimmer die Medizin für den Abend, bringt Frau R. zur Toilette, schaut in der Zwischenzeit schnell mal bei Frau L. ins Zimmer, die bettlägerig ist. „Na, Frau L., wie geht es Ihnen heute?“ Eine kurze Minute Zuwendung. Anja Sachs hätte gern mehr Zeit dafür. Sie muss jetzt Frau S. helfen, die aus dem Rollstuhl aufstehen will. „Die Knie durchdrücken! Wunderbar.“

34 Seiten Akten täglich

Dass Frau S. gerade selbstständig aufgestanden ist, das wird Anja Sachs heute Abend noch aufschreiben. So wie sie alles aufschreibt. Jeden Handgriff! Wem sie wann wie viel zu trinken gegeben hat. Wer wann welche Medikamente bekommen hat. Wem sie Schmerzpflaster geklebt hat. Wer Duschen war. Morgentoilette, Abendtoilette, Toilettengänge . . .

Die Akten der Bewohner, die täglich ausgefüllt werden müssen, sind 34 Seiten dick. Es stehen Sätze darin wie: „hat das Vollbad verweigert“, „ist heute sehr freundlich“ oder „bleibt auf Wunsch bis zum Mittagessen im Bett“. Eine halbe Stunde mindestens braucht Anja Sachs jeden Tag für das lückenlose Dokumentieren ihrer Arbeit. In dieser Zeit wäre sie viel lieber bei ihren Bewohnern. Bei einer Neuaufnahme dauert das Anlegen der Akte schon mal drei bis vier Stunden. Wertvolle Zeit, die den Pflegekräften in ihren ohnehin schon sehr knapp berechneten Arbeitstagen zusätzlich fehlt. Völlig unnötig vertane Zeit, wie Mitarbeiter in den Pflegeheimen schon seit Jahren bemängeln.

Die Kritik ist durchaus berechtigt, weiß Katja Grohmann, die als Qualitätsbeauftragte der Pflege GmbH arbeitet. Deswegen soll mit dem unnötigen Dokumentieren jetzt Schluss sein. Die Einrichtungen der Oberlausitzer und der Westlausitzer Pflege- und Kurzzeitpflege gGmbH in Bischofswerda, Neukirch, Großdubrau, Bautzen, Pulsnitz, Ohorn und Elstra werden nach einem neuen Projekt arbeiten, das der Pflegebeauftragte der Bundesregierung ins Leben gerufen hat. Ziel ist es, den bürokratischen Aufwand um mindestens die Hälfte zu reduzieren. Ganz abgeschafft werden kann die Dokumentation nicht. „Jede Pflegekraft muss ja auch künftig noch genau wissen, was bei jedem Bewohner zu tun ist, muss Gesundheitszustand, Gewohnheiten und alle Besonderheiten kennen und berücksichtigen“, erklärt die Qualitätsbeauftragte. Auch Prüfinstanzen wie der Medizinische Dienst fordern eine Dokumentation, nicht zuletzt müssen sich Einrichtungen auch rechtlich absichern.

Weniger Aufwand

Aber halb so viel ist auch noch genug: Künftig werden die Pflegedokumentationen nur noch 17 statt der bisher 34 Dokumentationsblätter umfassen. Allein aus einer bisher sechs Seiten umfassenden Informationssammlung über das Leben und Verhalten eines Bewohners ist ein einziges Blatt geworden. Viele Checklisten,Dopplungen und die tägliche Dokumentation von Routine-Handgriffen fallen weg. Ab August sollen die entschlackten Pflegedokumentationen schrittweise eingeführt werden. Ab Januar 2016 wird ausschließlich nach dem neuen System gearbeitet.

Abendbrotzeit in der Wohngruppe „Zur Wesenitz“. Anja Sachs hat Blutzucker gemessen und Insulinspritzen gesetzt. Jetzt hilft sie beim Essen. Danach wollen am liebsten alle gleichzeitig ins Bett. Für die 29-Jährige und ihre Kolleginnen wieder kaum Zeit zum Aufatmen. Abendtoilette bei Frau L., der Bettlägerigen. Anja Sachs wünscht der Hochbetagten eine gute Nacht. Dann setzt sie sich ins Dienstzimmer und beginnt, die Akten auszufüllen. Sie ist sehr froh, dass dieser Aufwand bald weniger wird.