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„Unter der Haut sind wir alle gleich“

Zwei Freitaler lieben es, ihre Körper zu verändern. Den Spaß daran können ihnen auch Nörgler nicht vermiesen.

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© Karl-Ludwig Oberthuer

Von Jörg Stock

Freital. Geht Christiane mit ihrem Liebsten Thorsten über die Straße, ist beiden Aufmerksamkeit sicher. Mit all den Tattoos auf der Haut, dem Metall im Gesicht, den Hörnern auf der Stirn und der Irokesenbürste obenauf – für die meisten liegt das jenseits von normal. Oder ist bereits abstoßend. Fangen da etwa die Kinder an zu heulen? Überhaupt nicht. Kinder sind von Natur aus offen und interessiert, sagt Christiane. Im Gegensatz zu manchen Eltern: „Guck da nicht hin! Willst du auch so aussehen?“ Diese Erziehung zur Intoleranz piept sie an. Sie und Thorsten sind doch ganz normale Leute – wenn man mal von der Oberfläche absieht. „Unter der Haut sind wir alle gleich.“

Body Modification

Acht Zentimeter Durchmesser haben Thorstens Ohrlöcher. Karl-Ludwig Oberthür
Acht Zentimeter Durchmesser haben Thorstens Ohrlöcher. Karl-Ludwig Oberthür
Dank implantiertem Magnet klebt eine 2-Cent-Münze an der Handkante. Karl-Ludwig Oberthür
Dank implantiertem Magnet klebt eine 2-Cent-Münze an der Handkante. Karl-Ludwig Oberthür
Trotz gespaltener Zungen: Knoten beim Knutschen gibt’s nicht.Karl-Ludwig Oberthür
Trotz gespaltener Zungen: Knoten beim Knutschen gibt’s nicht.Karl-Ludwig Oberthür
Die Tätowierungen auf den Händen des Paars ergeben zusammen ein Meisenpärchen. Karl-Ludwig Oberthür
Die Tätowierungen auf den Händen des Paars ergeben zusammen ein Meisenpärchen. Karl-Ludwig Oberthür

Christiane und Thorsten wohnen in einem adretten Freitaler Reihenhaus. Die Adresse soll ungenannt bleiben, auch der volle Name. „Wer uns kennt, der weiß Bescheid und wer nicht, für den spielt es eh keine Rolle“, sagt Thorsten. Neulich, als die beiden in der Zeitung gegen Raserei vor ihrer Haustür protestierten, gab es gehässige Kommentare zu ihrem Foto. Eigentlich haben die zwei keine Lust auf neuen Stress. Andererseits wollen sie gegen die Vorurteilen angehen. „Keiner von denen hat je ein Wort mit uns gewechselt“, sagt Christiane. „Woher wollen die wissen, wie wir sind?“

Christiane und Thorsten lieben es, ihre Körper zu verändern. „Body Modification“ sagt man dazu. Dass die beiden speziell sind, merkt man schon an der Haustür. Sie hat kein Schlüsselloch. Thorsten tippt auf den Knauf. Ein Leuchten. Dann hält er die rechte Hand dagegen – Klack! – das Schloss springt auf. Der Chip unter der Haut hat den Hausherrn ausgewiesen.

Die Spielerei passt zu Thorsten, der als Prüf-Ingenieur in der Mikro-Elektronik arbeitet. Praktisch, wenn man nicht mehr an den Schlüssel denken muss, findet er. Den Chip, ein reiskorngroßes Glasröhrchen, haben sich die beiden eigenhändig mit einer dicken Kanüle eingepflanzt. Der Gedanke macht Gänsehaut. Für das Paar ein Klacks. Logisch, bei all den Schmerzen, die für den Körperschmuck schon zu ertragen waren. Ach, so schlimm war das nicht, sagt Thorsten. Er und Christiane sind wohl weniger schmerzempfindlich als andere. Ja, sie geben ein gutes Paar ab. „Das wussten wir vom ersten Tag an.“

Die beiden gehen ins Wohnzimmer. Thorsten geht barfuß. Immer. Auch im Büro, auch draußen, auch im Schnee. Nur nicht auf dem Weihnachtsmarkt. Da werden die Füße beim Rumstehen immer so kalt. Rauf aufs Sofa. Die Wand dahinter ist pink, pink wie die Haare. Es ist Christianes Lieblingsfarbe. Als sie Thorsten traf, färbte sie dessen Stube bald rosarot. Klar, dass das gemeinsame Heim auch so aussehen würde. Bald wollen sie heiraten, hier in Freital, natürlich in Pink. Die Stadt kann Farbe vertagen, finden die beiden. Es gibt hier viele tolerante Menschen, sagen sie, auch hier im Viertel. Manchmal kommt man gerade mit denen am besten aus, die ihren Buchsbaum mit der Nagelschere stutzen.

Christiane und Thorsten sind Einwanderer. Sie stammt aus dem Ruhrpott, er aus dem Münsterland. Lange gingen sie durchs Leben wie viele andere. Christiane hatte Ohrringe, ein Bauchnabelpiercing und einen Nasenstecker, noch vom HNO-Arzt angebracht. Sie lernte Bürokauffrau und sah brav aus, „wie ein Püppchen“, sagt sie.

Thomas ließ sich mit 20 das erste Tattoo stechen, einen Feuerwehrhydranten, weil er damals bei der Freiwilligen Feuerwehr war. Seine Mutter wollte den Termin im Tattoostudio vereiteln. Umsonst. Bei dem Hydranten und ein paar Ohrringen blieb es, obwohl Thorsten mehr wollte. Nicht aus Rebellion oder Narzissmus, sagt er, sondern aus Neugier. Was kann man anstellen mit seinem Körper? Doch seine Umgebung dachte „eher traditionell“, seine Eltern besonders: Was sollen nur die Leute sagen?

Thorsten fügte sich. Doch als er 2005 für den Job nach Dresden zog, war der Druck plötzlich weg. Tattoos und Metall begannen sich anzusammeln. Bevor er die Wangenpiercings stechen ließ, die ersten im Gesicht, fragte er in einer bangen Minute im Fahrstuhl seinen Chef, was er davon hielte. Der nahm es locker. In der Firma zähle Leistung, nicht das Aussehen. „Er sagte: Wenn du das machen möchtest, dann mach’ das.“ Inzwischen hat Thorsten fast 70 Piercings. Sichtbar sind aber nur 25. Wo der Rest steckt, darf man sich denken.

Bei Christiane platzte der Knoten 2014. Sie kämpfte damals um das Leben von Harri, ihrer heiß geliebten Französischen Bulldogge. Die Geschichte dieses Kampfes hat sie sich in die Haut stechen lassen, mit Hundeporträts, Tierarzt, Hunde-Rollstuhl und Hunde-EKG-Kurven, aber auch mit Blumenrabatten und Meisenschwarm. Binnen eines Dreivierteljahres waren beide Arme, Dekolleté, Hände und Füße mit Farbe bedeckt.

Der Kampf ging verloren. Harri ist gestorben. Das Tätowieren geht weiter. Christiane plant auf ihrem Rücken einen Bulldoggenkopf mit Flügeln und Regenbogen. „Ganz viel Farbe“ – das sagt auch Thorsten zu seinen weiteren Plänen. „Bis zur Rente wollen wir voll sein!“ Beide kichern. Und was, wenn die Haut dann samt der Tattoos verschrumpelt ist? Ach, schrumpelig werden doch alle, sagt Christiane. „Wir sind dann eben bunt und schrumpelig.“

„Hi Papa!“ Raphael trudelt aus der Schule ein. Den 10-Jährigen hat Thorsten in die Beziehung mitgebracht, Christiane zwei Mädels, 14 und 17. Gemeinsam haben sie Lennox, der ist zwei. Mobbing wegen der Eltern? Kommt praktisch nicht vor, heißt es. Eher das Gegenteil, nach dem Motto: Hast du coole Eltern! Aber was, wenn die eigenen Kinder mit „Body Modification“ anfangen? Kira, die Zweitälteste, trägt schon ein Nasenpiercing. Mutter Christiane sieht das entspannt: Wenn die Kinder alt genug sind, sollen sie machen, was sie wollen.

Bunte Haare trägt der Nachwuchs jetzt schon gelegentlich, so auch demnächst, zur Hochzeit. Eigentlich wollten Christiane und Thorsten bei ihrem Jawort über den Gästen schweben, an metallenen Haken, die durch die Haut getrieben sind. „Body Suspension“ heißen solche skurrilen Aktionen. Aber da macht das Standesamt nicht mit. So wird die Seilnummer nachgeholt, nächstes Jahr, in den Radebeuler Weinbergen. Warum? „Weil wir es beide mögen“, sagt Christiane. „Normal kann jeder.“