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„Unser Leben hat sich verändert“

Zum Auftakt des Prozesses gegen die mutmaßlichen Mörder von Anneli schildern Familienmitglieder die Stunden der Entführung.

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© Ronald Bonß

Von Thomas Schade und Alexander Schneider

Es darf bezweifelt werden, dass Markus B. schon verinnerlicht hat, was er der Unternehmerfamilie Riße angetan hat. Mit einem blauen Aktenordner und einem Basecap versucht der gebürtige Schwabe, sein Gesicht zu verbergen. Später sitzt er mit gesenktem Kopf auf der Anklagebank, und Beobachter können kaum erkennen, ob er dem Geschehen im Verhandlungssaal der Schwurgerichtskammer des Dresdner Landgerichts überhaupt folgt.

Mit einem Aktenordner verbirgt der Angeklagte Markus B. sein Gesicht. Später kann er die Eltern seines Opfers nicht anschauen.
Mit einem Aktenordner verbirgt der Angeklagte Markus B. sein Gesicht. Später kann er die Eltern seines Opfers nicht anschauen. © Ronald Bonß

Tag 1 im Anneli-Prozess

Hier muss sich Markus B. seit Montag wegen erpresserischen Menschenraubes mit Todesfolge und wegen Mordes verantworten. Als Komplize sitzt Norbert K. neben ihm. Beide hatten sich 2014 bei einem Autohändler kennengelernt und angefreundet. Beide haben sich derzeit nichts zu sagen. Vor einem Jahr war das anders. Da türmte sich ein Berg von Forderungen vor Markus B. auf. Laut Anklage mehr als eine halbe Million Euro. Kosten bei der Sanierung des Dreiseithofes in Lampersdorf. Zudem hatte Markus B. im fränkischen Burgebach für 350 000 Euro ein Einfamilienhaus gekauft, das Anfang August bezahlt werden musste.

Geldnot war Motiv der Täter

Laut Anklage war die Geldnot der Ausgangspunkt dafür, dass Markus B. im Mai 2015 den Entschluss fasste, durch eine Entführung und Lösegeldforderung aus der finanziellen Not zu kommen. Norbert K. habe ihm geholfen, weil er ebenfalls Schulden hatte, 40 000 Euro, laut Anklage. Die erhoffte Beute von 1,2 Millionen wollte man teilen. Markus B. wollte 800 000, Norbert K. sollte 400 000 kriegen.

Die Chronologie des Verbrechens

Donnerstag, 13. August 2015

Anneli-Marie R. verlässt das Wohnhaus der Eltern in Robschütz – einem Dorf bei Meißen – am Abend gegen 19.20 Uhr zusammen mit dem Hund der Familie. Gegen 19.30 Uhr überwältigen die Täter die 17-Jährige auf einem Verbindungsweg zwischen B 101 und der Ortschaft Luga.

Donnerstag, 13. August 2015

Noch am selben Abend melden sich die Täter bei der Familie und fordern 1,2 Millionen Euro Lösegeld. Die Mutter von Anneli verständigt die Polizei, die Ermittlungen laufen an. Der Versuch, Annelis Handy zu orten, scheitert jedoch – das Gerät wird um 20.03 Uhr abgeschaltet. Parallel sucht Annelis Vater die üblichen Wege seiner Tochter ab. In zwei Kilometern Entfernung zum Wohnhaus findet er das Fahrrad und den angeleinten Hund.

Donnerstag, 13. August 2015

Gegen 21 Uhr erfolgt der zweite Anruf der Täter: Anneli sei bereits in Tschechien, sagen sie mit verstellter Stimme am Telefon. Werde das Lösegeld nicht gezahlt, würden die Eltern das Mädchen nicht wieder sehen. Sie geben Zeit bis Freitag 12 Uhr. Gleichzeitig läuft die Fahndung der Polizei an: Die Beamten setzen Spürhunde ein, die erste Spur führt zu einem Grundstück im Nachbarort Luga.

Freitag, 14. August 2015

Noch in der Nacht zum Freitag übernimmt die Polizei die Betreuung der Familie. Gleichzeitig richtet die Behörde ein Sondereinsatzkommando ein – etwa 1.200 Beamte werden über die Tage im Einsatz sein. In den frühen Morgenstunden durchkämmt ein Sondereinsatzkommando der Polizei schließlich das Anwesen in Luga. Allerdings finden die Beamten keine Spur von Anneli oder den Entführern.

Freitag, 14. August 2015

Ein Zeuge macht die Polizei auf ein silbernes Auto, einen BMW, aufmerksam. Das Auto wurde in den Tagen vor der Entführung von Zeugen im Ort gesichtet.

Freitag, 14. August 2015

Am Vormittag melden sich die Täter erneut und fordern eine Überweisung des Geldes per Online-Banking, was aufgrund der Höhe der Summe unmöglich ist. Ein Lebenszeichen von Anneli verweigern sie den Eltern. Danach reißt der Kontakt zu den Tätern ab.

Sonnabend, 15. August 2015

Noch in der Nacht erfolgt die Auswertung der Kommunikationsdaten. Gegen 2.44 Uhr haben die Ermittler eine nächste Spur: die Handydaten führen die Beamten zum Erlebnisbad Hetzdorf im Tharandter Wald. Das Gelände wird mit speziell ausgebildeten Hunden durchsucht – jedoch ohne Erfolg.

Sonntag, 16. August 2015

Der Polizei gelingt der Durchbruch: Ein DNA-Abgleich mit Spuren an Annelis Fahrrad ergibt einen Treffer. Von da an hat die Polizei einen Tatverdächtigen im Visier: den ehemaligen Koch Markus B. Sie ortet den Mann dank Funkzellenabfrage in einem Ort bei Bamberg (Bayern), auch der BMW wird dort entdeckt.

Sonntag, 16. August 2015

Am Abend teilt die Polizei öffentlich mit, sie gehe wegen einer Lösegeldforderung von einer Entführung aus, es werde wegen erpresserischen Menschenraubes ermittelt. Annelis Eltern wenden sich zudem mit einem offenen Brief an die Entführer.

Montag, 17. August 2015

Um Mitternacht gerät ein unbewohnter Bauernhof in Lampersdorf bei Meißen ins Visier der Ermittler. Dort lebte der Tatverdächtige Markus B. zuletzt. Hier vermuten die Beamten das Versteck der Entführer. Es folgt die Durchsuchung.

Montag, 17. August 2015

Um 4.30 Uhr gelingt der Polizei der nächste Durchbruch: In Dresden nimmt die Polizei einen zweiten Tatverdächtigen, den Metallhändler Norbert K., fest. Nur wenige Stunden später klicken auch in Bayern die Handschellen. Markus B. wird von der Polizei in Gewahrsam genommen. Der BMW wird ebenfalls beschlagnahmt.

Montag, 17. August 2015

Gegen 11.45 Uhr gibt es einen zweiten DNA-Treffer: Auf einem Gegenstand, der aus dem Dreiseithof in Lamperswalde stammt, finden sich sowohl die DNA eines Täters als auch des Opfers.

Montag, 17. August 2015

Ebenfalls am Montag beginnen die Ermittler mit der Befragung der zwei Tatverdächtigen. Norbert K. sagt in seiner Vernehmung aus und gesteht die Tat. Dank seiner Aussagen und der weiteren Durchsuchung des Hofes im Dorf bei Meißen finden die Beamten eine Leiche.

Montag, 17. August 2015

Gegen 21 Uhr beginnen Polizisten mit der Freilegung der Leiche. Eine Stunde später haben die Ermittler Gewissheit: Bei der gefundenen Toten handelt es sich um die 17-jährige Anneli-Marie R. Den Erkenntnissen der Ermittler zufolge wurde die 17-Jährige wahrscheinlich schon am Freitag ermordet.

Dienstag, 18. August 2015

Am Dienstag bestätigt auch die Polizei den Fund einer Leiche in Lampersdorf. Die Ermittler bestätigen während einer Pressekonferenz, dass es sich bei der Frauenleiche um Anneli-Marie R. handelt.

Dienstag, 18. August 2015

Gegen die beiden Verdächtigen – Markus B. und Norbert K. – wird ebenfalls am Dienstag Haftbefehl erlassen.

Freitag, 21. August 2015

In der Dorfkirche von Sora bei Meißen kommen 200 Menschen zu einer Trauerandacht für die ermordete Gymnasiastin zusammen.

Sonnabend, 29. August 2015

Anneli wird nach einer Trauerfeier in Sora im Familiengrab beerdigt. Über 800 Trauergäste kommen, um Abschied von der 17-Jährigen zu nehmen.

Donnerstag, 28. Januar 2016

Die Staatsanwaltschaft Dresden erhebt Anklage wegen erpresserischen Menschenraubes gegen die Tatverdächtigen Markus B. (40) und Norbert K. (62). Bei dem inzwischen 40-Jährigen geht sie von Mord aus. Er soll die Gymnasiastin getötet haben, „zur Verdeckung einer anderen Straftat“.

Montag, 30 Mai. 2016

Beginn des Prozesses gegen die beiden Tatverdächtigen vor dem Landgericht Dresden. Für den Prozess hat das Landgericht Dresden 15 Verhandlungstage bis Ende August geplant. Als erste der insgesamt 21 Zeugen will die Strafkammer die Eltern der Schülerin befragen, die Nebenkläger sind.

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In einem Baumarkt und einer Apotheke in Wilsdruff kaufte Markus B. daraufhin Kabelbinder und 250 Milliliter Ether. Seit 27. Juli habe er Familie Riße ausgekundschaftet, insbesondere den Weg, den Anneli-Marie, die jüngste Tochter, fast täglich mit dem Hund dreht, so die Anklage.

Am 13. August habe Markus B. seinem Opfer auf dem Feldweg am Schenkberg unweit vom Wohnort der Eltern aufgelauert und Anneli überwältigt. Norbert K. habe in einem BMW gewartet. Laut Anklage wehrte sich das Mädchen heftig. Beiden Männern sei es nicht gelungen, Anneli in den Kofferraum des BMW zu legen. Deshalb wurde sie auf dem Rücksitz transportiert. Als der erste Anruf bei Rißes einging, waren die Entführer mit ihrem Opfer an der Talsperre Malter, wo Markus B. Annelis Handy entsorgte. Danach wurde Anneli nach Lampersdorf gebracht und in einen Schuppen gesperrt. Dort habe Markus B. laut Anklage erkannt, dass ihm Fehler unterlaufen waren und Anneli die Entführer später würde identifizieren können. Da habe er beschlossen, das Mädchen zu töten und im Internet nach Möglichkeiten gesucht, sie umzubringen. Anneli sei mit einer Plastiktüte, mit Kabelbindern und einem Gurt erdrosselt worden.

Bauunternehmer Uwe Riße und Annelis Schwester, die beide als Nebenkläger in dem Prozess auftreten, sagten zu Beginn der Beweisaufnahme als erste Zeugen aus. Sie schilderten, wie die Familie die schweren Stunden der Entführung und das lange, vergebliche Warten auf eine Nachricht von den Kidnappern erlebt hatten. Das Leben der Familie habe sich seit dem 13. August 2015 verändert, so die Zeugen. Anneli lebte als jüngstes Kind noch im Elternhaus, wo es nun einsamer sei. Vor allem Annelis Mutter sei nach wie vor traumatisiert, ihr falle es schwer, ihrer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, so Uwe Riße. Auf die Frage der Vorsitzenden Richterin Birgit Wiegand sagte Uwe Riße, dass er und seine Frau noch psychiatrisch betreut würden. Der Unternehmer bestätigte, dass die Familie bereit war, das geforderte Lösegeld zu bezahlen. Zwei Banken hätten das Geld bereitgestellt, LKA-Beamte hatten es abgeholt. In Annelis Reisetasche stand es zur Übergabe bereit. Doch die Entführer brachen den Kontakt ab. Eigene Initiativen blieben erfolglos.

Unklar ist, welche Rolle Norbert K. in dem Fall gespielt hat. Er räumte am Montag ein, bei der Entführung geholfen zu haben, bestreitet aber, mit Annelis Tötung zu tun zu haben. Sein Verteidiger Andrej Klein verlangte, dass die zweite Beschuldigtenvernehmung seines Mandanten nicht in die Beweisaufnahme eingeführt werde. Auf dieser Aussage fußen wesentliche Teile der Anklage. Sein Mandant sei am Ende der etwa achtstündigen Vernehmung 40 Stunden ohne Schlaf gewesen.

Der Verteidiger moniert zudem, dass Norbert K. bei der Polizei 30 Stunden lang im Schlafanzug ausharren musste, obwohl er bei der Festnahme Kleidung mitnehmen durfte. Die Verteidigung schließt nicht aus, dass ihr Mandant beim Haftrichter einen bestimmten Eindruck hinterlassen sollte. Auf dem T-Shirt seiner Schlafkleidung stand dick und fett: „Böhse Onkelz.“