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Traurig farbenfroh

Mike Nelde ist ohne Familie in Kinderheimen aufgewachsen. Aber er hat seinen Weg gefunden. Und er macht anderen Mut.

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© Nikolai Schmidt

Von Frank Seibel

Sommer – ein Sehnsuchtswort. Sonne, Wärme, Leichtigkeit. Auch Mike Nelde hat Sehnsucht nach Sommer. Auch wenn damit dunkle Erinnerungen verbunden sind. Erinnerungen an betrunkene Eltern, an Gewalt. Aber Sommer ist sein Name gewesen, als er ein Kind war. „Familienname“, sagt man – aber hinter diesem „Sommer“ liegt alles im Dunkeln, was mit Familie zu tun hat. „Ich weiß nichts über meine Eltern, nichts über meine Geschwister“, sagt Mike Nelde, der heute 41 Jahre alt ist und seinen Nachnamen von einer Adoptivfamilie hat. Auf Facebook hat er diesen Namen schon abgestreift, und bald wird er auch ganz offiziell „Sommer“ heißen. Nicht, weil es so schön klingt, auch nicht, weil er damit auch nur eine gute Erinnerung verbindet. Aber dieser Name, sagt er, ist das Einzige, was ihn an seine Wurzeln führen kann. Vielleicht meldet sich wenigstens eines seiner sechs Geschwister? Er weiß ja nicht einmal, wie viele Brüder und wie viele Schwestern darunter sind. Vielleicht wird jemand aufmerksam auf „Mike Sommer“ und meldet sich; vielleicht ein Cousin, eine Cousine.

Mike Nelde ist in Görlitz bekannt wie ein bunter Hund – vielleicht passt die abgegriffene Floskel in diesem Fall. Denn Mike Nelde ist Malermeister, seine Firma heißt „Farbenfalter“, sein Hobby ist die „Blubberey“ mit riesigen Seifenblasen, beim Straßentheater oder bei anderen Festen. Als fröhlichen Kerl kennen ihn viele. „Aber ganz tief hier drin“ – er tippt mit der rechten Hand aufs Herz – „bin ich nicht fröhlich“. Wo andere sich an ein Zuhause erinnern, an Mutter, Vater, Sonntagsausflug, Murmelbahn und Geburtstagskuchen, da ist bei ihm Leere.

Drei Jahre alt war Mike Nelde, als das Jugendamt seine Familie auseinandernahm. Das hat noch nichts mit Unrecht zu tun. Wenn die Eltern ständig betrunken sind, sich gegenseitig prügeln und die Kinder gleich mit, dann muss ein Jugendamt auch heute eingreifen. Und doch hat er sich an den Entschädigungsfonds für ehemalige DDR-Heimkinder gewandt. Dieser Fonds wurde vom Bundesfamilienministerium und den Bundesländern eingerichtet, weil es tausendfach zu schweren körperlichen und seelischen Misshandlungen kam.

„Mir geht es nicht ums Geld“, betont er. „Das kann für mich nichts gutmachen.“ Aber mit dem Antrag kommt eine Recherche in Gang, die Türen öffnen kann; Türen zu Erinnerungen an die Kindheit, zur eigenen Identität, zur Geschichte der Eltern, Großeltern, der Geschwister. Vor den Terminen im Leipziger Büro des Entschädigungsfonds hat Mike Nelde Angst. Das sagt er auch seinen Freunden über Facebook; er bittet um Beistand, um gute Gedanken. Und er hat das Glück, dass er viele Freunde hat, die zu ihm stehen.

Wie war’s neulich in Leipzig? „Es tut weh“, sagt Mike Nelde dann, und das fröhliche Blitzen in den Augen erlischt kurz. Die Suche nach seinen Wurzeln, nach dem, was ihm „in die Wiege gelegt“ wurde, wird vermutlich lange dauern. Und die Erinnerungsräume, die er dabei durchstreifen muss, sind wie eine Geisterbahn, und die Menschen, die seine Kindheit prägten, sind die Monster. Erzieherinnen, die ihn, den immer neugierigen, quirligen Jungen, in den streng geregelten Alltag im Heim einzwängten, indem sie ihn schlugen, einsperrten, demütigten, seelisch quälten.

Durch diese Geisterbahn führt der Weg zu seinen Eltern. Vielleicht. Die Menschen in der Beratungsstelle für den Fonds haben ihm Mut gemacht, aber ihn auch auf einen harten Weg eingestimmt. Sie werden seine Akte finden. Irgendwo, irgendwann. Wenn es etwas im Überfluss gab in der DDR, dann war das Bürokratie. Und bislang gilt es als sehr unwahrscheinlich, dass seine Akte verschwunden ist oder vernichtet wurde.

In dieser Akte wird er Namen finden und Daten. Die Namen seiner sechs Geschwister, ihre Geburtstage. Mike Nelde weiß bislang nur, dass er das älteste Kind ist. Die Vornamen der Eltern wird er finden, den Mädchennamen der Mutter, vielleicht Namen von Onkeln und Tanten. Ortsnamen. Wegweiser zu anderen Akten. „Vielleicht waren meine Geschwister im gleichen Heim wie ich. Vielleicht haben wir miteinander gespielt. Ich weiß es nicht.“ Einmal war die Chance da – aber er war noch nicht so weit. 1994 war das, er war gerade 20 Jahre alt, hatte das letzte (und beste) Heim in Görlitz gerade hinter sich, als seine Großmutter sich meldete. Über das Deutsche Rote Kreuz hatte sie nach den Enkeln gesucht. An einem Tag trafen sie sich, „aber ich habe den Wert noch nicht erkannt“.

Kein braves Adoptivkind

Dreimal sollte er zu Adoptiveltern vermittelt werden; mindestens einmal sogar verkauft, in den Westen, gegen Devisen. So viel hat er schon herausgefunden. „Ich erinnere mich sogar, dass ich mal in Heidelberg war. Da muss ich sieben oder acht Jahre alt gewesen sein.“ Aber es hat nicht gepasst. „Das ging gar nicht mit mir.“ Ein lebenshungriger Junge, der noch nie Geborgenheit kannte – viel zu wild, zu frech, zu respektlos, um ein braves Adoptivkind zu sein. Eine vierte Familie hat dann Ja gesagt. Er kam nach Niesky, erhielt seinen neuen Namen: Nelde. Aber wieder eine unmögliche Konstellation. Der Sohn des Ehepaars war kurz zuvor gestorben. Sie suchten Trost und einen Ersatz. „Aber ich war nicht wie ihr Sohn, konnte es ja gar nicht sein.“

Es liegt kein Hass in seiner Stimme und seinen Worten, wenn er von Menschen spricht, die ihm seine Kindheit und Jugend zerstört haben. Er muss das nicht, weil er selbst „freigesprochen“ wurde. Gleich beim ersten Gespräch beim Fonds habe der Mitarbeiter gesagt: „Mike, du kannst nichts dafür.“ Ein wichtiger Satz. Ein befreiender Satz, beinahe.

Dass er heute ein erfolgreicher Malermeister ist, geschätzt und gemocht wird – ein Wunder. Eines, das Mike Nelde vor allem zwei Menschen verdankt. Einer Erzieherin aus dem Görlitzer Kinderheim, in das er ab 1990 noch für zwei Jahre kam, nachdem das Niesky-Projekt gescheitert war. Daniela Zubeck hat ihm geholfen, eine Lehrstelle als Maler zu finden. Und dort traf er auf Wolfgang Werner, den Meister. „Er hat mich nicht fallen gelassen, obwohl ich viel Mist gemacht habe und meist zu spät kam.“

Drogen, Klauen, Schulden, „alles, was man sich denken kann“ hat er als junger Mann mitgenommen. „Aber ich war immer fleißig und zuverlässig, wenn es darauf ankam. Und ich war gut als Maler.“ So gut, dass Meister Werner ihm geraten hat, selbst eine Firma zu gründen. Als Mike Nelde vor über zehn Jahren in Dresden seinen Meisterbrief ausgerechnet aus den Händen seines eigenen alten Meisters erhielt, haben sich beide umarmt.

Hilfe aus der Kinderbibel

Privat blieb der junge Mann auf der Suche nach einem tieferen Sinn für sein Leben. In alle Kirchen ist er gegangen, fand bei den Alt-Lutheranern einen Pfarrer, der drei Jahre lang mit ihm jede Woche einmal die Bibel las eine Kinderbibel. Mit 27 ließ er sich in der Heilig-Geist-Kirche hinterm Bahnhof taufen, ist ein tief gläubiger Mensch geworden, ohne „die“ Kirche gefunden zu haben, die wirklich passt. Sieben Jahre noch dauerte es, bis er im Lot war. Da war er 34. „Seitdem weiß ich, wenn ich auf einem falschen Weg bin, mit falschen Leuten, in einer falschen Situation. Und ich habe die Kraft, mich davon zu lösen.“

Und diese Kraft reicht aus, um anderen zu helfen. Mit der Stadtmission betreibt er das Suppen-Mobil, fährt zweimal pro Woche zu Obdachlosen an verschiedenen Orten. Gibt ihnen zu essen, redet mit ihnen. Manchmal, erzählt Mike Nelde, trifft er Männer, die er von früher kennt. Mit denen er in einem Zimmer war im Kinderheim in Weinhübel. „Die wenigsten schaffen es in ein normales Leben.“

Mike Nelde erzählt nicht gerne diesen privaten Kram. Aber erzählt ihn nun, weil er anderen Mut machen will, die ein ähnliches Schicksal haben wie er. Gemeinsam mit seiner früheren Erzieherin Daniela Zubeck will er solchen Menschen eine Plattform bieten, damit sie nicht allein bleiben, damit sie einander Halt geben können. Denn die Geschichte von Mike Nelde zeigt auch, dass man den Weg ans Licht finden kann. Mit viel Fleiß und starkem Lebenswillen. Dann kann man Menschen finden, die einem die Hand reichen. Mike Nelde ist dankbar, dass er den Weg ins Leben geschafft hat. Und er will anderen Mut machen, wenn sie nach Rückschlägen aufgeben wollen. Da kann es helfen, wenn man sich trifft und miteinander spricht.

Er hat allen Mut zusammengenommen, seinen Weg weiterzugehen. Nachdem er den Weg nach vorne, in die Zukunft bewältigt hat und als Malermeister erfolgreich und anerkannt ist, traut er sich den Weg in die Vergangenheit zu. Und er wird weiter den Sommer suchen. Auf Facebook heißt er schon „Mike Sommer“. Bald wird er sich auch offiziell so nennen dürfen.