Von Thilo Alexe und Gunnar Saft
Dresden. Der Sachse – so heißt die Kampagne von Ministerpräsident Stanislaw Tillich zur Landtagswahl 2009. Der CDU-Politiker sieht sich als den Sachsen. Und er sieht die Sachsen auch ein bisschen so, wie er sich selbst sieht. Das ist der Schlüssel für Tillichs Politikverständnis.
Tillichs Amtszeit in Bildern
Im Jahr nach der Wahl spricht der diplomierte Konstruktions- und Getriebetechnikingenieur in einem SZ-Interview davon, dass „im Grunde ... jeder Sachse ein Ingenieurs-Gen in sich“ trage. Eine Bilanz seiner Amtszeit als Regierungschef zeigt: Immer dort, wo die Gleichsetzung aufgeht, wo, wie Tillich sagen würde, fischelante, tüftelnde Sachsen auf einen wirtschaftsfreundlichen Ministerpräsidenten treffen, da kann der Christdemokrat seine Stärken ausspielen.
Regelmäßig besucht er Firmen, und er geht nicht nur zu den bekannten wie zu BMW in Leipzig, sondern eben auch zum Vliesstoffhersteller Norafin in Mildenau. Seit seinem Amtsantritt nach Georg Milbradts Rücktritt 2008 ist das Wirtschaftsministerium nie CDU-geführt. Doch Tillich ist immer auch Wirtschaftsminister. Das liegt ihm. Dabei beginnt seine Amtszeit aus ökonomischer Sicht problematisch. Der Landesbankverkauf belastet Sachsen. Der Chiphersteller Qimonda kriselt, 2009 geht er in die Insolvenz. Rund 4 000 Jobs verschwinden aus Dresden. Die Befürchtung grassiert, dass die Konzentration auf sogenannte Leuchttürme scheitert und so die Region wirtschaftlich ruiniert wird. Gekommen ist es anders. Beim Amtsantritt Tillichs im Juni 2008 liegt die Arbeitslosenquote in Sachsen bei 12,4 Prozent. Im November 2017 sind es sechs Prozent.
Der unmittelbare Anteil des Politikers daran ist schwer messbar. Aber: Der Regierungschef hat gute Kontakte in Konzernspitzen, auch wenn er Abbaupläne von Siemens in Görlitz und Leipzig nicht unterbinden konnte. Neue Ansiedlungen können die Qimonda-Pleite kompensieren. Jüngste Beispiele für Investitionen, in deren Vorbereitung Tillich aktiv ist, sind die geplante zweite Batteriefabrik von Daimler in Kamenz sowie Ausbaupläne von Bosch, Globalfoundries und Philip Morris in Dresden.
Und abseits der Wirtschaft? Tillich pflegt einen moderierenden Politikstil. Er setzt auf Ausgleich, Kompromisse und gibt anders als seine Vorgänger Kurt Biedenkopf und Georg Milbradt weniger die Richtung vor. Er ist, wenn man so will, ein Politiker des Typus Merkel. Tillich macht keine schnellen Versprechungen. Andererseits lässt er unterschiedliche Auffassungen lange laufen, bis er eingreift – so etwa beim Thema Lehrer. Doch dort konnte ein Millionenpaket nicht wirklich Abhilfe schaffen. Der Streit um Verbeamtung schwelt mittlerweile zwischen CDU-Fraktion und dem von Tillich bestellten Kultusminister. Für Sachsen ist das höchst ungewöhnlich.
Der Regierungschef lässt die konsequente Finanzpolitik seiner Vorgänger, die auf Schuldenvermeidung zielt, sogar präzisieren. 2013 ändert der Landtag die sächsische Verfassung und ergänzt sie um ein Neuverschuldungsverbot. Das schafft solide Finanzen. Zugleich untermauert es die Politik der Sachsen-CDU, vor allem Geld für Infrastruktur als Investition zu begreifen. Personalausgaben sind in diesem Denken eher eine langfristige Last. Die Folgen sind problematisch. Denn Ansprüche der Sachsen und auch Probleme im Land nehmen nicht in dem Maß ab, wie die Bevölkerung sinkt. Egal ob Schule, Kriminalität oder ärztliche Versorgung: Spätestens in der zweiten Hälfte von Tillichs Amtszeit werden die Fragen nach Stellen für Lehrer, Polizisten und Ärzte drängender. Der Regierungschef lässt den Personalabbau stoppen und ordnet Aufwuchs an – Folgen der Kehrtwende sind bislang kaum spürbar.
Tillich kann prägnante Analysen treffen. Und er ist gewitzt. Der Braunkohlebefürworter hat auf dem Dach seines langjährigen Wohnsitzes Fotovoltaik-Technik installiert, „als Altersvorsorge“, wie er vor Jahren scherzt. Allerdings fällt es ihm oft schwer, seine Politik zu erklären – auch Erfolge wie beim Länderfinanzausgleich oder der EU-Förderung. Er räumt selbst ein, dass es rhetorisch versiertere Redner gibt als ihn. Doch das allein ist es nicht. Tillich, sagen CDU-Politiker, die ihn beinahe täglich sehen, kann im direkten Gespräch sehr gut reden. Egal ob er dem Leipziger Maler Neo Rauch, den er regelmäßig besucht, oder Eltern bei CDU-Familienfesten begegnet: Er trifft meist den richtigen Ton. Doch soll er der breiten Öffentlichkeit etwas erklären, wirkt Tillich oft steif und verkrampft. Er ist auch keiner, der sich gerne mit Journalisten austauscht. Abneigung wäre ein zu starkes Wort, doch hegt er zumindest Skepsis gegenüber der Branche. Das hat Gründe. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt gerät er bundesweit ins Visier der Medien. Die halten dem neuen sächsischen Regierungschef vor, nicht detailliert über eine frühere Tätigkeit im DDR-Machtapparat informiert zu haben. Tatsächlich war Tillich kurz vor der Wende als Mitglied der Ost-CDU zum Stellvertreter des Rates des Kreises Kamenz aufgestiegen – zuständig für den Bereich Handel und Versorgung. Ein Posten, dessen Bedeutung im Osten eher gering angesehen wurde. Dazu kommt aber ein Streit über einen Fragebogen, in dem er Kontakte zur Staatssicherheit verneint, obwohl es in dieser Zeit zu zwei dienstlichen Befragungen durch MfS-Mitarbeiter gekommen war. Die Vorwürfe ebben ab, hinterlassen bei Tillich aber Spuren.
Das Thema, das schließlich seinen Rückzug besiegelt, ist für die CDU lange keines: Wie geht man um mit denen, die weiter rechts sind? Die NPD ist aus CDU-Sicht rechter Rand, der ohnehin schwächelt. Ein Verbot soll das Problem lösen. Tillich zählt zu den Wortführern des mittlerweile gescheiterten Verfahrens.
Als die AfD 2014 in den Landtag einzieht, ist die Lage diffuser. Die sächsische Union – einer der konservativsten CDU-Landesverbände überhaupt – ist verunsichert. Die bei Euro- und Bankenrettung skeptische AfD, heißt es, sei so etwas wie Fleisch vom eigenen Fleisch. Kurz nach der Wahl marschiert erstmals Pegida durch Dresden, rasch wächst die Bewegung. Im Januar 2015 versammeln sich an einem Montag 25 000 Demonstranten.
Tillich muss reagieren. Doch die Diskussionsforen, die die Staatskanzlei organisiert, entpuppen sich als wenig wirksam. Tillich sitzt mit Bürgern bei Brezeln und Wasser am Tisch, Regierungsmitarbeiter schreiben Forderungen auf große Zettel. Die aufgeheizte Stimmung ändert sich aber nicht. Sachsen ist Spitzenreiter bei Anschlägen auf Asylunterkünfte, Tillich über das Ausmaß des Hasses wirklich entsetzt. Im Landtag hält der Ministerpräsident nachdrückliche Reden, in einem Interview versteigt er sich zu der Bemerkung, das seien „keine Menschen“, die so etwas tun. Hier funktioniert die lange erfolgreiche Gleichsetzung nicht mehr. Der Sachse Tillich versteht die Sachsen nicht mehr, wenn sie nicht tüfteln, sondern wüten.
Auch im Umgang mit der AfD tut sich die sächsische CDU, deren Vorsitzender Tillich ist, schwer. Frühzeitig beschließt sie ein recht scharf gefasstes Papier zur Asylpolitik. Und der in Dresden lebende Bundesinnenminister Thomas de Maizière drängt permanent auf schärfere Abschieberegeln. Die Landes-CDU aber hat wenig davon. Bei der Bundestagswahl in diesem Jahr landet der erfolgsverwöhnte Verband erstmals nicht auf Platz eins, sondern knapp hinter der AfD. Tillich entscheidet danach: Er geht. CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer schlägt er als Nachfolger vor.