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„Sie kommen nicht alle als Monster zurück“

Warum lockt der IS Mädchen wie Linda W. an? Claudia Dantschke betreut die Familie der Pulsnitzerin und erklärt, warum die Ursachen dafür nicht in den Kriegsgebieten zu finden sind.

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© Screenshot: SZ

Dresden/Berlin. Nach der Festnahme von Linda W. im Irak verhandeln Diplomaten über die Pulsnitzer Schülerin. Die 16-Jährige ist nicht die Einzige, die der Propaganda des Islamischen Staates (IS) folgte. Inzwischen ist bestätigt, dass vier der in Mossul festgenommenen Frauen Deutsche sind. Seit 2012 waren bundesweit 400 Familien betroffen. Extremismus-Expertin Claudia Dantschke von der Initiative Hayat betreut Lindas Familie. Sie erklärt, warum der IS gerade Frauen anwirbt.

Frau Dantschke, warum rekrutiert der IS Frauen und Mädchen?

Das kommt immer auf den Einzelfall an. Fest steht aber, dass der Islamische Staat junge Frauen und Mädchen seit mindestens 2015 gezielt anwirbt. Vorher wurden vor allem Jungs und Männer als Kämpfer rekrutiert. Aber für den Islamischen Staat geht es auch um den Aufbau des neuen Kalifats. Dafür werden Frauen gebraucht.

Die Frauen gründen mit den IS-Kämpfern Familien?

So könnte man das nennen. Es soll ja eine neue Generation geboren werden, die erste des neuen Kalifats. Manche der Mädchen und Frauen sind relativ schnell schwanger geworden. Sex außerhalb der Ehe ist streng verboten, also wollen alle jungen Männer dort eine Frau. Jeder Kontakt mit dem anderen Geschlecht ist verboten, außer in der Ehe.

Warum ausgerechnet Frauen aus dem westlichen Kulturkreis?

Viele der Kämpfer stammen ja aus dem westlichen Kulturkreis und sprechen oft nicht oder nur schlecht arabisch. Da sind westliche Frauen ideal, weil man sich besser verständigen kann.

Was bringt Mädchen und junge Frauen dazu, sich dem IS anzuschließen?

Meist ist es ganz simpel. Die Mädchen sind in irgendeiner Form unzufrieden mit ihrem Leben. Vielleicht ist auch die Scheidung der Eltern die Ursache für dieses Gefühl. Sie fragen sich dann: Gehöre ich eher zur Mutter oder zum Vater? Soll ich mich abnabeln und das Leben in die eigene Hand nehmen? Und dann lockt auf einmal das große Versprechen, der tolle Mann.

Was ist denn aus Sicht der Mädchen und jungen Frauen am Islamischen Staat verlockend?

Das Kalifat, die Fantasie des perfekten islamischen Staates, quasi ein Weltprojekt. Das Versprechen, Teil von etwas Großem, einer Prophezeiung werden zu können. Selbst die erste Generation eines künftigen Weltreichs zu sein. So wie beim Propheten Mohammed. Die Botschaft: Hier kannst du eine Familie gründen.

Mit welchen Methoden rekrutiert der IS die jungen Frauen?

Über Internet und soziale Netzwerke. Es gibt Werbevideos und ein regelrechtes Mädchenrekrutierungsnetzwerk über Messengerdienste. Eine große Rolle spielt auch der Nachrichtendienst Telegram. Das alles kann man als radikale Popkultur bezeichnen, als Pop-Dschihadismus. Nur, dass hier die Stars nicht mehr Justin Bieber heißen, sondern die neuen Idole sind die „Löwen des Islam“, die Kämpfer des Dschihad. Aber es geht nie wirklich um den Islam.

Die Religion, vor allem in der radikalen Auslegung des IS, spielt keine Rolle?

Die Jungs und Mädchen sind nicht auf der Suche nach Religion. Sie suchen Akzeptanz, Orientierung, Anerkennung. Es geht auch um Abenteuer, Männlichkeitsbilder und Perspektiven. Hier setzen die Dschihadisten an. Die Jungs träumen irgendwann davon, als Märtyrer ins Paradies zu kommen. Die Mädchen hoffen das auch, hängen aber viel mehr am irdischen Leben.

Was können Eltern tun?

Die Kinder verändern sich, sie brauchen Aufmerksamkeit. Wer einen guten Draht zu seinem Kind hat, merkt das. Am Verhalten, der Kommunikation. Es geht immer um persönlichen Frust. Man muss mit ihnen reden. Sonst gibt es vielleicht mal einen zufälligen Kontakt zu Radikalen, und die füllen dann die Leere. Eltern sollten auf keinen Fall autoritär handeln, sondern ergründen, was los ist und gucken, wo sie helfen können. Und: Auf keinen Fall nur über den Islam diskutieren. Das Religiöse ist nur der Ausdruck von etwas anderem.

Was passiert mit den deutschen Frauen, die die Armee jetzt aufgreift?

Wir hoffen, dass sie lebend zurückkommen können. Hier haben wir alle Möglichkeiten, die Frauen wieder einzugliedern. Sie haben sich hier radikalisiert und kommen nicht alle als Monster zurück. Viele, die wir kennen, wollten relativ schnell wieder weg. Der Mann war vielleicht nicht der erhoffte Traumgott. Oder hatte noch eine zweite und eine dritte Ehefrau, auf deren Kinder die Mädchen aufpassen müssen.

Ging es da wirklich immer nur um Familie und nicht auch den Kampf?

Die Frauen kämpfen nicht. Manche durften sich an der IS-Propaganda beteiligen, Texte übersetzen. Oder sollten Freundinnen anwerben. Manche haben sogar für ihren Mann eine zweite Ehefrau geworben. Man muss jeden Einzelfall prüfen. Wer sich schuldig gemacht hat, muss sich verantworten. Anschließend muss die Gesellschaft verzeihen und hoffen, dass sich die Frauen wieder eingliedern.

Wie soll das funktionieren?

Wir müssen intensiv mit den Mädels und Jungs arbeiten. Vielleicht sind sie ideologisiert und nur enttäuscht vom IS. Was ist noch an Gedankengut im Kopf? Wir müssen helfen, das zu überwinden. Inzwischen wird ja kaum noch rekrutiert, weil man nicht mehr in die IS-Gebiete hinkommt.

Sie haben auch Samuel W. aus Sachsen betreut. Ist das ein gelungenes Beispiel?

Ein sehr positiver Fall. Er wurde vor Gericht freigesprochen. Samuel war nicht zum Kämpfen ausgereist, sondern hatte die naive Vorstellung, in Syrien den Islam ordentlich leben zu können und Frauen und Kindern im Krieg zu helfen. Dass es nicht das Richtige war, hat er schon im IS-Auffanglager gemerkt. Im Herbst 2014 konnte man daraus noch fliehen. Jetzt ist jede Flucht lebensgefährlich. Für Frauen noch mehr, weil sie nicht alleine auf die Straße dürfen. Haben sie Kinder, ist es fast unmöglich, abzuhauen.

Das Gespräch führte Tobias Wolf.

Zur Person: Claudia Dantschke arbeitet für „Hayat Deutschland“. Die Extremismus-Expertin betreut auch Lindas Familie.