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Schweden in Zschöppichen

Hundert Jahre sorgten Kinder für frischen Wind im Schloss Neusorge – dank Elsa Brändström. Nun droht der Verfall.

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© Thomas Schade

Von Thomas Schade

Warum ist die einzige Bank auf dem Dorfplatz von Zschöppichen blau-gelb gestrichen, so wie die Fahne der Schweden? Die Antwort steht ein paar Meter weiter auf der Säule mit dem kreisrunden Bronzerelief: Elsa Brändström. Die Schwedin verbrachte in Zöppichen vor den Toren von Mittweida zehn ihrer 60 Lebensjahre. Auch Jahre nach ihrem Tod scheint sie noch immer die bekannteste Frau hier zu sein. „Elsa Brändström hat unseren Ort bekannt gemacht“, sagt Jörg Naumann, ein Elektroingenieur, der im Zschöppichen zu Hause ist und Erinnerungen an die Schwedin wachhält, wo immer er kann.

Elsa Brändström (1888 – 1948)
Elsa Brändström (1888 – 1948) © Thomas Schade
Eine der Heim-“Familien“ beim Frühstück.
Eine der Heim-“Familien“ beim Frühstück. © Jörg Naumann
Schloss Neusorge in den 1920er-Jahren.
Schloss Neusorge in den 1920er-Jahren. © Jörg Naumann

Der Kinder wegen sei die Diplomatentochter Anfang des 20. Jahrhunderts in den Ort gezogen, sagt er. „Lehret das Kind, im Leben etwas zu wagen“, hat man auf ihren Gedenkstein gemeißelt. „Ihre Geschichte erzählt die große Vergangenheit unseres kleinen Dorfes“, sagt Naumann. Die Schwedin habe Zschöppichen zu einem Ort christlich-humanistischer Erziehung und Fürsorge gemacht, der der Zeit weit voraus war. Das wisse nur keiner. In den Jahren nach 1924 hatte sie das größte Anwesen des Ortes gemietet – Schloss Neusorge.

In den schweren Jahren nach dem Ersten Weltkrieg war das barocke Schloss ein stattliches Anwesen. Es dominierte den über 600 Jahre alten Ort. Ein Ritter von Wolkenburg gehörte hier zu den ersten Lehnsherren. Im 15. Jahrhundert ergriffen die Schönberger Besitz von Zschöppichen und errichteten ein Renaissanceschloss. Sie prägten erstmals den Namen Neusorge. Er habe nichts mit Sorgen zu tun, die die Schönberger plagten. „Es handelte sich viel mehr um ein neues Anwesen, um das man sich künftig sorgen musste“, erklärt der Heimatgeschichtler.

Johann Christoph Knöffel, der Rokoko-Baumeister des Dresdner Hofes, soll die Pläne geliefert haben, nach denen das barocke Schloss Neusorge errichtet wurde, das bis heute erkennbar ist. Neben dem Haupthaus entstanden ein Gerichtsgebäude, eine Orangerie und ein weitläufiger Park, später auch eine Schäferei. In der lebt Jörg Naumanns Familie seit mehreren Generationen. Das alte Anwesen habe auch seine historische Neugier auf die Ortsgeschichte beflügelt, sagt der 46-Jährige.

In das Schloss zog niemand ein. Alle Besitzer bevorzugten es, in der Orangerie zu leben: die Arnims, die Bühnaus und auch die Familie von Carlowitz – die letzte Schlossherrschaft vor 1914. Aus wirtschaftlicher Not verkauften die Carlowitzens vor dem Ersten Weltkrieg das Schloss. So kam es in den Besitz des Leipziger Fürsorgeverbandes, der die Orangerie als Kinderheim nutzte und das Schloss endlich bewohnbar machte, erzählt Jörg Naumann.

In jener Zeit erstreckten sich auf der Südseite breite Terrassen über das abschüssige Gelände. Dahinter lag der Schlosspark. Die Arnims haben großen Aufwand betrieben, um ihren Lustgarten nach dem Vorbild von Großsedlitz bei Dresden zu gestalten. Auf den Terrassen wurden Kräuter und Obst angebaut. Breite Rampengänge mit Balustraden aus Hilbersdorfer Porphyr führten vom Schloss hinunter zum Park. In die Trockenmauern waren Grotten eingelassen. In denen sprudelte Wasser aus sandsteinernen Delfinen.

Heute ist vom Schlosspark nichts mehr zu sehen, der angeblich mal zu den schönsten in Sachsen gehörte. Ahorn- und Birkenspießer haben das Gelände erobert. Die Hälfte des Parkes wurde 1983 überbaut. Weitere Zweckbauten haben das architektonische Ensemble ramponiert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im November 1923, als Elsa Brändström zum ersten Mal nach Zschöppichen kam, war das noch anders.

Die Schwedin war damals 35 und hatte in den Jahren zuvor viel Leid gesehen. Sie hatte als Tochter des schwedischen Botschafters in Sankt Petersburg gelebt. Ihre Mutter war früh verstorben. So besuchte sie an der Seite des Vaters Bälle, amüsierte sich auf Bridgepartys und in der Oper.

Doch nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebte sie im Nikolaihospital die Schrecken des Krieges. Sie ließ sich zur Schwester ausbilden und pflegte verwundete deutsche und österreichische Kriegsgefangene, denen es besonders schlecht erging in russischer Gefangenschaft. Sie wurde Schwester des Schwedischen Roten Kreuzes, nutzte ihre Verbindungen ins Diplomatische Korps, um Spenden nach Russland zu bringen, und sie brach im Auftrag des Roten Kreuzes zu den Gefangenenlagern nach Sibirien auf. In den Lagern setzte sie sich hartnäckig dafür ein, dass den Gefangenen wenigstens einigermaßen erträgliche Bedingungen gewährt wurden. „Als sie selbst an Flecktyphus erkrankte, beteten Gefangene für ihre Genesung“, sagt Jörg Naumann. Damals hätten Soldaten der hochgewachsenen blonden Schwedin im Schwesternornat den Namen „Engel von Sibirien“ gegeben. Schwer erkrankten Gefangenen versprach sie, sich um ihre Kinder in der Heimat zu kümmern.

1923 löste Elsa Brändström dieses Versprechen ein, sammelte Geld und ging nach Deutschland, wo die Inflation grassierte. In Leipzig lernte sie den geheimen Regierungsrat Dietrich kennen, der den Führsorgeverband leitete und Schloss Neusorge gerade zu einer sozialen und pädagogischen Einrichtung umgestaltete. Elsa Brändström pachtete das Schloss für zehn Jahre zu einem jährlichen Zins von 10  000 Reichsmark. „Ein Glücksfall für Hunderte Kinder und die Menschen in Zschöppichen, von denen fortan viele Arbeit im Schloss fanden“, sagt Jörg Naumann.

Bald lebten 60 Waisenkinder ehemaliger sibirischer Kriegsgefangener im Schloss. Sie fanden in Zschöppichen eine neue Heimat. Zusätzlich kamen jeden Sommer bis zu 150 Kinder zu einem Kurzaufenthalt ins Schloss, erzählt Jörg Naumann. Elsa Brändström habe den herrschaftlichen Sitz zu einem Ort moderner Pädagogik gemacht. Studenten aus Halle und Dresden seien zum Praktikum hierhergekommen.

Kinder und Erwachsene lebten in sogenannten „Familien“ zusammen, zu denen jeweils 25 Personen gehörten. Das Ambiente war einfach. Viel Wert wurde darauf gelegt, gemeinsam Feste zu gestalten, Sport zu treiben, die Kirche zu besuchen oder Theaterabende zu veranstalten. Alles sei „höchst einfach, aber gewinnbringend durch seine Frische“, die Atmosphäre sei „richtungweisend demokratisch“, schrieb eine amerikanische Freundin Brändstöms nach ihrem Besuch in Neusorge. „Es gab keine Dienenden und keine Bedienten. Tischler, Gärtner, Erzieher und Kinder – sie leben und arbeiten gemeinsam.“

Jörg Naumann geht davon aus, dass in den zehn Jahren rund 3 000 Waisen- und Halbwaisenkinder Schloss Neusorge besucht haben. Die philanthropische Schwedin wurde für ihr wohltätiges Engagement weit über die Grenzen Sachsens hinaus bekannt. Sie machte Schloss Neusorge zu einem Begriff für moderne christlich-liberale Erziehung. Die Tübinger Universität verlieh Brändström die Ehrendoktorwürde.

Auch die Nazis hätten sie gern für sich vereinnahmt. Sie luden sie auf den Obersalzberg ein, um ihr den Präsidentenposten des NS-Winterhilfswerkes anzutragen. Aber die Schwedin lehnte ab. Sie war inzwischen mit dem Dresdner Ministerialreferenten Robert Ulrich verheiratet, einem Sozialdemokraten und Dozenten der Kunstwissenschaften. Ihm folgte Elsa Brändström 1933 in die Emigration nach Amerika. Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes machte die Schwedin noch einmal international auf sich aufmerksam – als Initiatorin von Hilfssendungen an notleidende Familien im Nachkriegsdeutschland. Ihr Impuls führte zur Organisation Care. Den internationalen Erfolg der Care-Pakete erlebte sie aber nicht mehr.

In Schloss Neusorge zog nach ihrem Fortgang ein anderer Geist ein. Die Nazis rissen das herrschaftliche Anwesen an sich und stellten es dem nationalsozialistischen Kraftfahrkorps als Fahrschule zur Verfügung. Garagen verfälschten bald das Schlossensemble. Ein Fußballplatz wurde angelegt. Auch das Rittergut zum Schloss wurde aufgeteilt. Es entstand die sogenannte 1. Sächsische Bauernsiedlung mit zehn landwirtschaftlichen Betrieben.

Nach 1945 wohnten mindestens zehn Jahre lang Kriegsvertriebene im Schloss Neusorge. Ab 1955 richtete die Volksbildung des Bezirkes Karl-Marx-Stadt ein Heim für schwer erziehbare Kinder ein, das 1983 durch einen Neubau im westlichen Teil des Schlossparks um 120 Plätze erweitert wurde. In der DDR, so glaubt Jörg Naumann, habe man den pädagogischen Ansatz von Elsa Brändström kopieren wollen. „Es war kein Jugendwerkhof, aber dass man die Ära Brändström erfolgreich fortsetzen konnte, ist nicht bekannt“, sagt er und erzählt, wie schwer man sich 1988 getan hat, den 100. Geburtstag der Schwedin zu begehen, die Zschöppichen und Mittweida bekannt gemacht hatte. Der Heimleiter und der Pfarrer wollten einer Straße oder einem Kindergarten ihren Namen verleihen. „Aber keiner wollte so recht“, erinnert sich Jörg Naumann. „Erst als sich das schwedische Fernsehen angekündigte, erhielt die Betriebskinderkrippe des VEB Baumwollspinnerei Mittweida schnell noch den Namen Elsa Brändström.“

1993 verließen die letzten Kinder das Schloss. Da war es schon Eigentum der Treuhand. Sie versteigerte die Immobilie zwei Jahre später für angeblich 580 000 an zwei Chemnitzer Immobilienmakler. Die neuen Besitzer taten kaum etwas, um das Schloss zu erhalten. Es verfiel 15 Jahre lang zusehends. „Wäre in dieser Zeit etwas getan worden, wäre Neusorge heute nicht in einem so schlechten Zustand“, sagt Jörg Naumann. Schon seit Jahren darf das in rotem Porphyr gefasste Hauptportal nicht mehr geöffnet werden. Mit bloßem Auge sind die Schäden am Schieferdach zu erkennen. Drinnen seien Decken eingestürzt, sagt Naumann. Park und Terrassen verwildern.

Im Herbst 2011 wechselte das Schloss bei einer Auktion erneut den Besitzer. Nunmehr ging es für angeblich 50 000 Euro an zwei Männer aus Berlin. Die hätten wohl gar nicht gewusst, was sie da erworben hatten, vermutet Naumann. Seiner Ansicht nach wurde der entscheidende Fehler schon 1995 gemacht. „Da gab es ein Ehepaar, das aus dem Schloss eine Privatschule machen wollte. Diese Privatschule gibt es heute, aber in Norddeutschland.“ Damals sei die beste Chance vergeben worden.

Einer der gegenwärtigen Eigentümer ist im Ort bekannt. Er will am Telefon aber keine Auskunft zu seinem Besitz geben. „Herabfallende Steine gefährden nun Autofahrer und Fußgänger“, sagt Jörg Naumann. Der Ostflügel drohe teilweise einzustürzen. Bauaufsicht und Denkmalschutz begutachteten das Schloss und halten kleine, mittlere und große Schäden für so zerstörerisch, dass sie den gesamten Komplex gefährden.

Bei einem Krisentreffen zwischen Behörden und Eigentümer konnte man sich 2016 nicht einigen. Wie aus dem Landratsamt zu hören ist, verlangten die Eigentümer angeblich, dass die Kommunen Geld geben, damit sie bauen können. Doch es gibt weder ein tragfähiges Nutzungs- noch ein Finanzierungskonzept. Inzwischen wurden die Eigentümer aufgefordert, den Gebäudekomplex mit Bauzäunen zu sichern. Getan hat sich nichts. Aus dem Landratsamt ist zu hören, dass die Kommune noch in diesem Jahr Ersatzmaßnahmen veranlassen will. Dafür werden die Eigentümer zur Kasse gebeten. „Verhärtete Fronten“, sagt Jörg Naumann, der seinen Ort mit CDU-Mandat im Mittweidaer Stadtrat vertritt. Der 46-Jährige widmet unzählige Stunden seiner Freizeit dem Schloss und seiner Geschichte. Er zeigt auf das große Rittergut und sagt: „Es geht doch.“

Im Gegenteil zum Schloss sind die großen Gutshäuser in einem soliden Zustand. Seit Generationen leben die Nachfahren des letzten Gutsverwalters Gottfried Hendel hier. Gerhard Hendel hat das Gut, das seiner Familie viel bedeutet, nach der Wende gekauft, viel Geld in die Erhaltung gesteckt und Fördermittel erhalten. So erhielt das riesige Torhaus Mitte der 90er-Jahre ein neues Dach. Die Turmuhr läuft wieder, und alle Wohnungen in den Häusern sind vermietet. Rittergut und Schloss dominieren bis heute das Dorf mit 200 Einwohnern. Einhundert Jahre war der herrschaftliche Sitz größter Arbeitgeber in Ort. „Schon deswegen hängen die Leute an ihrem Schloss, aber sie sind ratlos“, sagt Jörg Naumann.

Er hält ab und zu an der blau-gelben Bank vor dem Torhaus inne und schaut zum Elsa-Brändström-Denkmal hinüber, das der schwedische Botschafter 2014 eingeweiht hat. Dann geht ihm eine Vision durch den Kopf: Junge Leute könnten auch heute die Zukunft von Schloss Neusorge sein. Man könnte hier eine handwerkliche Ausbildungsstätte mit Internat einrichten, beispielsweise für junge Flüchtlinge, die in Schloss Neusorge zu Facharbeitern oder Meistern qualifiziert werden. „Da es Elsa Brändström nicht mehr gibt, braucht man einen anderen starken Partner“, sagt er. Den sieht Naumann quasi vor der Haustür: Die Hochschule Mittweida, eine Lehr- und Forschungsstätte mit 150-jähriger Erfahrung. Die Hochschule sei wie geschaffen, das Werk Elsa Brändströms mit der eigenen Tradition zu verbinden, sagt Naumann. Da gebe es nur einen Haken: „Die Hochschule beißt nicht an.“