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Schöner Golfen in Grünau

Das Plattenbauquartier, zu DDR-Zeiten beliebt und in den 2000er-Jahren gerupft, feiert zum 40. Geburtstag ein zartes Comeback. Golfplatz inklusive.

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© Sebastian Willnow

Sven Heitkamp

Daniel Theiler ist es natürlich auch ernst mit seinem Spaß. Auf einer Wiese, umgeben von Elfgeschossern in Blau und Gelb, steckt er eine Fahne in den Boden und grinst. Mitten im riesigen Plattenbauviertel Leipzig-Grünau hat der Architekt und Künstler sein „Grünau Golf Resort“ eröffnet und „GGR“ genannt. Die Abkürzung ist ebenso eine historische Anspielung wie die Club-Farben: Alles ist in Gelb und Blau gehalten, wie einst die FDJ. Das angemalte gebrauchte Golfmobil kommt aus Polen, Mitgliedsanträge haben das Layout der DDR-Ausreiseanträge. Das Klubhaus ist ein verkleinerter Nachbau des „Royal Golfclub Mariánské Lázne“ im tschechischen Marienbad, wo sich einst Golfspieler aus der DDR konspirativ trafen. Eine kleine Ausstellung im Innern der Holzhütten erinnert an diese Zeit.

Daniel Theiler lädt bis Ende Juli ein, auf dem Grün zwischen den Hochhäusern Golf zu spielen. 45 Löcher sind im ganzen Viertel verteilt, das einst nach Berlin-Marzahn das zweitgrößte Neubaugebiet der DDR war. Gemeinsam mit den Grünauern sollen noch mehr Löcher gesetzt werden. Theiler will das größte urbane Golfresort der Welt erschaffen. Es gibt Schnupperkurse mit dem schottischen Golf-Profi Steve Murphy und der Jugendmeisterin Sophie Sperlich. Die „Grünau open“ steigen am 16. Juli. Veralbern will Theiler den Stadtteil damit nicht. Im Gegenteil. „Mir geht es darum, das Image und die Exklusivität von Grünau neu zu überdenken“, sagt er. Zu DDR-Zeiten sei das Quartier schließlich sehr beliebt gewesen, erst später geriet es in Verruf. Jetzt aber zieht neues Leben ein. „Die Grünauer“, findet Theiler, „können die Dinge hier selbst in die Hand nehmen.“

Das Golfresort ist so etwas wie ein Geburtstagsgeschenk zum 40. Jubiläum des Stadtteils, für den im Juni 1976 der Grundstein gelegt worden war. Das Kunstprojekt gehört zum Grünauer Kultursommer mit Hunderten Konzerten, Ausstellungen und schrägen Aktionen, wie Rundtouren in einem fahrbaren Holzkino und handgemachten orientalischen Plattenbaufassaden. Und es ist zugleich eines der sichtbarsten Zeichen des Umbruchs und des Aufbruchs in Grünau: Nach Jahren im Zeichen von Abriss, Wegzug und sozialen Spannungen ist im Großstadtrevier so etwas wie eine Trendwende zu spüren.

Für rund 70 Millionen Euro Fördergeld von Bund und Land entstanden in den vergangenen Jahren nicht nur Spielplätze, Parks und Spazierwege, sondern auch das Spaßbad „Grünauer Welle“ und viele soziale Einrichtungen. Stadtweit bekannte Szenetreffs beleben das Quartier und bieten Jugendlichen einen Zufluchtsort: Das Kinder- und Jugendtheater „Theatrium“ etwa, das „Heizhaus“, in dem Skater über halbrunde Rampen rasen, und der 21 Meter hohe Kletterfelsen „K4“, der aus abgerissenen Plattenbauten errichtet wurde und vom Alpenverein betrieben wird. Ein neuer Schulcampus und ein ganzes Viertel mit Einfamilien- und Reihenhäusern entstehen, freie Schulen wie das Montessori-Schulzentrum des Bistums Dresden-Meißen sind hier zu Hause. Und Wohnungsgenossenschaften haben angefangen, neue Terrassenhäuser mit Blick auf den Kulkwitzer See zu errichten. Mit Erfolg.

Inzwischen ziehen neue Bewohner und neues Leben in den einst belächelten Stadtteil. Nach dem traurigen Tiefststand von nur noch 40 000 Bewohnern vor fünf Jahren werden inzwischen wieder 42 500 Grünauer gezählt. So kommen Rückkehrer aus Westdeutschland zurück nach Grünau. Junge Familien ziehen zu ihren Eltern ins modernisierte Plattenbauhochhaus. Ältere verlassen das einst erträumte Eigenheim am Stadtrand, um nah bei ihren Kindern und Enkeln und der guten Infrastruktur zu sein. Auch viele Flüchtlinge werden in leeren Wohnungen der Stadt untergebracht.

Als Seismografen neuer Trends und günstiger Mieten erobern zudem junge Künstler die Platte: Leere Wohnungen wurden schon als Ateliers und Galerien bespielt. „Sobald man Räume bereitstellt, werden sie genutzt. Das war früher nicht so“, sagt Sven Bielig, Leiter des Heizhauses. „Grünau wird interessanter.“ Einer der Jungen ist Andreas Grüttner, 23 Jahre und Lehramtsstudent für Mathe und Physik. Vor fünf Jahren kam er aus Sondershausen nach Grünau. Er wollte in die Nähe des Heizhauses. „Ich liebe es, BMX-Rad zu fahren, und bin mehrmals die Woche in der Halle“, erzählt er. Dafür nimmt er die langen Wege zur Uni in Kauf. „Grünau ist für mich aber zwiespältig geblieben“, sagt er. „Total ruhig und grün, ideal zum Entspannen und um Sterne zu fotografieren. Aber es gibt auch schwierige, unsanierte Straßen – um die mache ich einen Bogen.“

Uwe Kowski weiß um diese Ecken. Er sitzt in einem schlichten Büro an der Stuttgarter Allee und leitet mit seiner Frau das städtische Quartiersmanagement. Er kennt jeden Winkel seines Reviers. „An den Stadtteil wird heute ideologiefrei gedacht“, sagt Kowski. Mit seiner Hilfe entstehen immer neue Netzwerke, die den zarten Neubeginn unterstützen: Die Wohnungswirtschaft kooperiert, um Probleme gemeinsam zu lösen. Die Kitas und Schulen haben sich zusammengetan. Ein Elternnetzwerk ist entstanden. Kowski ist dabei auch ein Sprachrohr für die Stimmung der Mieter und gibt seine Wahrnehmungen ans Rathaus weiter. Er möchte vermeiden, dass vor allem jene Leipziger nach Grünau verdrängt werden, die sich anderswo die Mieten nicht leisten können. „Wir brauchen eine gesunde soziale Mischung.“

Kowski kennt alteingesessene Mieter, die sagen, dass sie es bald nicht mehr aushalten in ihrem Hochhaus. Es sei ein sozialer Brennpunkt geworden. „Die Wohnungswirtschaft muss darauf achten, wer wo einzieht“, sagt er. Denkbar sei auch ein Concierge-Modell, bei dem ein Hausmeister oder Pförtner im Erdgeschoss schwieriger Hochhäuer sitzt und den Eingang im Auge behält, um das Sicherheitsgefühl der Bewohner zu erhöhen. Auch einige Plattenbau-Schulen sind bis heute unsaniert und in einem miserablen Zustand. „Da gibt es nichts zu beschönigen“, sagt Kowski. Er wünscht sich zudem, dass noch mehr getan wird, um junge Familien für Grünau zu begeistern: Gewerbe ansiedeln etwa und lokale Ökonomie aufbauen. Einige Kreative würden schon nach Arbeitsflächen suchen, und warum sollte nicht eine leere Kita für Gemeinschaftsbüros umgebaut werden? „Wir brauchen gute Voraussetzungen, um Leute anzuziehen.“

Es wäre eine zusätzliche Chance für den zweiten Frühling von Grünau. Ende 1977 waren die ersten Mieter eingezogen. Zunächst blieb „Schlammhausen“ noch jahrelang Baustelle. Bis 1987 entstanden auf 3,6 mal 2,5 Kilometern Ausdehnung sieben Wohnkomplexe. Doch in den 90er-Jahren – mit der Abwanderung gen Westen, der Sanierung der Altbausubstanz Leipzigs und neuen Eigenheimen am Stadtrand – setzte der Niedergang ein. In den 2000er-Jahren wurden fast 70 Häuser abgerissen, einer der letzten Komplexe war die berühmt-berüchtigte „Eiger Nordwand“, ein riesenhafter Wohnriegel an der Neuen Leipziger Straße. Nur fünf von 19 Sechszehn-Geschossern blieben am Ende stehen. Von 35 500 Wohnungen in Grünau verschwanden 7 700 – fast 22 Prozent. Die Einwohnerzahl von 85 000 zur Wendezeit halbierte sich.

Manche Einwohner haben alle Wechselzeiten miterlebt, so wie Klaus Wagner und seine Frau. „Der Abriss vieler Häuser hat uns anfangs wehgetan – wir haben sie ja noch entstehen sehen“, erzählt der 73-jährige frühere Lehrer, der seit 1979 in Grünau lebt. Aber er weiß auch: „Ein großer Leerstand hätte soziale Probleme möglicherweise verschärft.“ Wagner hilft heute Flüchtlingen beim Erlernen der deutschen Sprache und macht sehr unterschiedliche Erfahrungen mit ihnen. „Die Sprache“, sagt er, „kann nur ein erster kleiner Schritt im schwierigen Prozess sein, diese Menschen in unser Grünau wirklich zu integrieren.“ Wagner fühlt sich absolut heimisch im Quartier: „Uns geht es richtig gut in Grünau. Die Infrastruktur stimmt, unsere Freunde leben hier, und die Bäume, die wir einst gepflanzt haben, sind heute groß und grün.“

So zufrieden sind allerdings nicht alle. Das Heizhaus ist eigens für Jugendliche das ganze Jahr über geöffnet. 30, 40 Jugendliche vertreiben sich dort tagtäglich die Zeit, um nicht auf der Straße zu sitzen. Die sozialen Nöte zu Hause sind groß. Betreut werden sie vor allem von Ehrenamtlichen. „Wir sind die einzige Jugendeinrichtung mit Tagesbetrieb, die keine Sozialpädagogen von der Stadt bezahlt bekommt“, beklagt Sven Bielig vom Verein „Urban souls“. Angst vor Vandalismus hatte auch Golfplatz-Architekt Daniel Theiler. Er hat vor seiner Kunstaktion Grünauer Jugendliche eingeladen, damit sich seine Idee unter ihnen herumspricht und als cool gilt. Die Idee ging auf.