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Robinson im Gefängnis

Siegfried Bolte ist 73 Jahre alt. Er ist frisch verheiratet. Und er sitzt als Mörder im Gefängnis Waldheim. Neun Jahre hat er noch vor sich – und will dann neu starten.

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© Thomas Kretschel

Von Susanne Sodan

Er will hier lebend rauskommen. „Ich will unbedingt mein Zuhause sehen“, sagt Siegfried Bolte. Dieses Zuhause liegt nur 250 Meter Luftlinie entfernt. Eine kleine Wohnung, eine Frau; seine Frau. 250 Meter – und unerreichbar. Zwischen Siegfried Bolte und seinem Zuhause liegen mehrere Gänge, gelb gestrichen, mehrere Türen aus Metall, grau und verschlossen, Mauern aus rotem Backstein, gekrönt mit Stacheldraht. Siegfried Bolte ist Insasse im Gefängnis Waldheim, auf der Seniorenstation. Siegfried Bolte ist jetzt 73 Jahre alt. Sechs Jahre hat er hinter sich, mindestens neun liegen noch vor ihm. 82 wird er also sein, wenn er das Gefängnis verlassen darf. „Meine Frau nennt mich Robinson“, sagt Siegfried. Immer schon, seit sie sich kennengelernt haben, lange vor Waldheim. Robinson kam von seiner Insel 28 Jahre nicht herunter. Robinson Crusoe hat überlebt.

„Ich bin hier wegen Mordes“, sagt Siegfried Bolte. Er sagt es geradeheraus. Hier, das ist seine Zelle in Waldheim: ein Bett mit einer beigefarbenen Decke, ein Schreibtisch, ein Stuhl dazu, ein Kleiderschrank, ein paar Regale an der Wand. Dort hängen Fotografien. Auf fast allen ist eine Frau zu sehen: blonde, kurze Haare, ein bisschen füllig. „Das ist meine Kleine.“ Karin, seine Frau. Irgendwo gibt es noch ein anderes Bild, das nicht an der Wand hängt. Es zeigt eine andere Frau: dunkle, längere Haare, eine unauffällige Brille, ein leichtes Lächeln. Das ist seine erste Frau gewesen. 47 Jahre war er mit ihr verheiratet. Dann hat er sie umgebracht.

„Ich habe den besten Posten hier in Waldheim abbekommen“, sagt Siegfried Bolte. Seit vergangenem Jahr ist er zuständig für die Gefängnis-Bibliothek. Eng gedrängt stehen die Bücherregale in dem kleinen Raum. Romane, Biografien, Krimis, insgesamt 16 500 Bände. Er bearbeitet die Bestellungen seiner Mitgefangenen, sucht Bücher heraus, kontrolliert, welche Medien wieder abgegeben werden müssen, bringt Bücher, holt Bücher ab. Etwa hundert Insassen nutzen die Bibliothek. „Ich habe den Vorteil, dass ich mich verhältnismäßig frei bewegen kann“, sagt Siegfried Bolte.

Er hat den besten Posten in einem Gefängnis. Hier gilt er als zuverlässig und vertrauenswürdig. Jemanden, dem man zutraut, Drogen oder Handys durchs Gefängnis zu schmuggeln, hätte man die Stelle als Bücherwart nicht gegeben. Krimis liest Siegfried Bolte nicht. Er hat seinen eigenen Krimi. Der Fall war damals vor allem durch die thüringische Presse gegangen. Das Ehepaar lebte in Harra im Saale-Orla-Kreis. Boltes Frau wollte sich von ihm scheiden lassen. Bei einer Auseinandersetzung am 4. März 2010 erstach er sie mit einem Hirschfänger. 48 Jahre zuvor hatte Siegfried Bolte sie kennengelernt. Sie war in Thüringen verwurzelt, er arbeitete anfangs auf Usedom, später in Brandenburg. Er war Pilot bei der NVA; das Fliegen ist seine große Leidenschaft. „Sie hat sich nicht dafür interessiert.“ Diesen Satz sagt er oft.

Siegfried Boltes Lieblingsbuch liegt in der Zelle. Ein Fotoalbum: Karin in einem weißen Kleid aus fließendem Stoff mit blauen Bändern, Siegfried im schwarzen Anzug. „Wir haben vergangenes Jahr geheiratet“, erzählt er. Am 11. November 2015, genau 33 Jahre, nachdem die beiden sich kennengelernt hatten. Sie sei es vor allem, die ihm Hoffnung gibt – dass es weitergeht nach dem Gefängnis, sagt er. „Liebende Herzen lächeln über alle Fragen des Lebens.“ Dieser Spruch steht in dem Hochzeitsalbum.

Die Trauung fand nicht im Gefängnis, sondern im Standesamt Waldheim statt. Freiheit für einen Tag. Der gemeinsame Alltag besteht jetzt aus der Besuchszeit, zwei Stunden alle zwei Wochen. Über was sie reden? „Darüber, was man den Tag über so gemacht hat.“ In Waldheim laufen die Tage immer ähnlich ab, für Siegfried Bolte und für die anderen Gefangenen. Einen Wecker braucht man nicht. Sechs Uhr morgens rasselt der Schlüssel im Schloss der Zellentür. Frühstück gibt’s in der Zelle. Dann, gegen sieben Uhr, geht es zur Arbeit, zumindest für die jüngeren Häftlinge.

Das Gefängnis Waldheim hat mehrere interne Betriebe. Während Siegfried Bolte sich an den Computer in der kleinen Bibliothek setzt, arbeiten andere zum Beispiel in der Buchbinderei, der Druckerei, der Schlosserei oder in der Tischlerei. „Langweilig ist mir selten“, sagt Siegfried Bolte. Die Arbeit hilft, durch den Tag zu kommen. Der Alltag hilft, Lesen hilft. „Ich habe hier ja ausreichend Literatur.“ In der Senioren-Abteilung ist es anders. Hierher kommen Gefangene mit unterschiedlichem Strafmaß und aus unterschiedlichen sächsischen Gefängnissen. „Ältere Insassen können selber entscheiden, ob sie in die Senioren-Abteilung nach Waldheim verlegt werden möchten“, erklärt Michaela Tiepner, Sprecherin der JVA Waldheim. Voraussetzung ist, dass die Inhaftierten über 60 Jahre alt sind. In einer normalen JVA kann es für sie schwierig werden. Mobbing, Ärgereien – das halten gerade viele Ältere nicht mehr aus.

„Die Gefahr ist groß, dass die Senioren sich dann zurückziehen und sich nicht mehr aus ihrer Zelle trauen.“ Dazu kommt: Wenn Seniorengefangene erst spät straffällig geworden sind und bis dahin normal gearbeitet haben, bekommen sie ihre Rente. Damit steigt das Risiko, dass Jüngere versuchen, sie auszunutzen und an das Geld heranzukommen. Auffällig werde so etwas zum Beispiel bei unklaren Bewegungen auf dem Konto des betroffenen Inhaftierten, erklärt Michaela Tiepner. Oder auch, wenn über das gewöhnliche Maß hinaus eingekauft wird, vor allem Tabak oder Kaffee.

Hier gehen wir ordentlich miteinander um“, sagt Siegfried Bolte. Das ist der andere Punkt, der ihn aufrecht hält. „Ich habe bis jetzt immer jemanden gefunden, der mir ein guter Gesprächspartner ist.“ Beim Hofgang auf der Bank sitzen, mit den anderen eine rauchen. Echte Freundschaften seien das eher nicht – aber eine Erleichterung. „Manchmal erwische ich mich dabei, dass ich mit Leuten rede, die gar nicht da sind.“ Der Kontakt mit anderen, das Zusammenleben in einer Gemeinschaft, gerade für die älteren Gefangenen sei das wichtig, sagt Michaela Tiepner.

Zwar gibt es auch Senioren-Gefangene, die wie Siegfried Bolte regelmäßig Besuch bekommen. Vielen anderen aber fehlen altersbedingt Kontakte im häuslichen Umfeld. 2006 ist die Seniorenstation mit 25 Plätzen eröffnet worden. Weil der demografische Wandel eben auch vor den Gefängnistoren nicht haltmacht, erklärt Michaela Tiepner. Seit 2000 ist die Zahl männlicher Gefangener über 55 Jahre in Sachsen von 90 auf rund 130 gestiegen. Alt werden im Gefängnis, das bedeutet auch Demenz und körperliche Gebrechen.

„Demenzerkrankungen spielen im Alltag der Seniorenabteilung eine Rolle“, sagt Michaela Tiepner. Denn haftunfähig ist man deswegen nicht automatisch. Das hängt von der Ausprägung ab. Voriges Jahr wurde erstmals ein Gefangener wegen Demenz und schwerer körperlicher Beeinträchtigungen entlassen; in ein Pflegeheim.

Die Seniorenstation in Waldheim ist Gefängnis, ein paar Dinge erinnern aber an Pflegeheim: Haltegriffe in der Dusche, ein Duschstuhl, ein behindertengerechter Haftraum, Gartentherapie. Täglich besucht ein Mitarbeiter des medizinischen Dienstes die Seniorenstation. Dazu gehören sechs Pfleger und der Anstaltsarzt – der Hausarzt im Gefängnis. Wenn nötig, bietet eine Ergotherapeutin Motorikübungen und Seniorensport an. Haft bleibt das Ganze dennoch. Aber es nützt keinem, wenn ältere Gefangene in dieser Zeit völlig abbauen. Sie sollen ihre Strafe als Strafe wahrnehmen, erklärt Michaela Tiepner. Was danach kommt? Siegfried Bolte weiß das genau: Nach Hause gehen, nur 250 Meter.

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