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Quereinsteiger im Klassenzimmer

Zum Schuljahresbeginn hat Sachsen so viele Nicht-Pädagogen als Lehrer eingestellt wie noch nie. Eltern haben Bedenken.

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© dpa

Von Andrea Schawe

Die junge Frau unterrichtet 28 Stunden in der Woche, sieben Fächer, in allen vier Klassenstufen einer Grundschule – doch sie ist keine ausgebildete Lehrerin. Studiert hat sie eine Geisteswissenschaft. Zur Vorbereitung auf den Moment, das erste Mal vor einer Grundschulklasse zu stehen, hatte sie eine Woche. Am 1. August wurde sie vom Freistaat Sachen eingestellt, am 8. August begann der Unterricht an der Grundschule in der Dresdner Neustadt, schildert Elternsprecherin Gesine Seymer die Situation.

„Die Bedingungen sind skandalös“, sagt Seymer. Nur eine Woche Vorbereitung sei zu wenig. „Warum beschäftigt man die Seiteneinsteiger von Anfang an voll?“ Die Lehrerin ihres Sohnes sei sehr engagiert und würde gern bei Kollegen hospitieren, „sie kann aber nicht, weil sie ja selbst voll unterrichten muss“.

Zum Schuljahresbeginn in Sachsen traten so viele Nicht-Pädagogen vor die Klassen wie noch nie. Fast jeder zweite neu eingestellte Lehrer ist Seiteneinsteiger und startete ohne eine abgeschlossene pädagogische Ausbildung in den Unterricht. Sachsen hat mit 45 Prozent bundesweit die höchste Quote. Die 700 Quereinsteiger unterrichten vor allem in Grund- und Oberschulen, in den Gymnasien machen sie nur vier Prozent der aktuellen Neulehrer aus.

Im ländlichen Raum ist der Anteil noch viel höher. An den Oberschulen in den Landkreisen Bautzen und Görlitz sind 57 der 64 im August neu eingestellten Lehrer Seiteneinsteiger – 89 Prozent. „Uns fehlen einfach die Bewerber“, sagt Angela Ruscher, Sprecherin der Bautzner Regionalstelle der Sächsischen Bildungsagentur. „Der Lehrermarkt ist leer gefegt.“ Außerdem habe es die ländliche Region in Konkurrenz zur Großstadt schwer.

Auch im Bezirk Chemnitz fehlen Bewerber. „In Vorbereitung dieses Schuljahres ist es uns äußerst schwergefallen, die vorgesehenen 229 Stellen zu besetzen“, sagt Lutz Steinert von der Regionalstelle Chemnitz. Nur 106 grundständig ausgebildete Lehrer haben sich beworben. „Letztlich ist uns das nur durch Einstellung von Seiteneinsteigern gelungen.“ 124 haben am 1. August ihren Dienst begonnen.

Nur wenige hören auf

Bisher haben nur wenige die Schulen wieder verlassen. Nach Zahlen der Bildungsagentur sind in Chemnitz seit August 2015 etwa zehn Prozent der 169 Seiteneinsteiger ausgeschieden, in Bautzen ist es einer, im Regionalbezirk Dresden hat bisher keiner der 180 Seiteneinsteiger gekündigt. Alle Neueinstellungen zum August 2016 befinden sich aber noch in der Probezeit, weshalb noch keine Aussagen zu Kündigungen möglich sind, so Sprecherin Petra Nikolov.

Allerdings gibt es auch Fälle, in denen Bewerber Stellen nicht angetreten haben, obwohl sie Verträge mit Sachsen haben – etwa, weil das Angebot mit Beamtenstatus für Lehrer und zum Teil deutlich höheren Gehältern in einem anderen Bundesland besser ist. Zuletzt gab es in der Region Leipzig 30 solcher Absagen.

Auch an der Dresdner Grundschule gab es einen solchen Fall. „Eine neue Lehrerin hatte eine erste Klasse übernommen, ging dann aber in ein anderes Bundesland“, berichtet Seymer. Die erste Klasse unterrichtet nun eine Referendarin, obwohl sie eigentlich für den Matheunterricht verantwortlich sein sollte. Den muss nun auch die Seiteneinsteigerin übernehmen – neben Deutsch, Sachunterricht, Musik und Kunst ihr siebentes Fach.

Vor allem die fehlende Qualifizierung sehen die Eltern dabei als Problem – besonders bei wichtigen Fächern wie Mathe. Der Grundschulbereich werde stiefmütterlich behandelt, sagt die Dresdner Elternsprecherin. Das sei gerade in Sachsen, wo die Grundschulausbildung die künftige Laufbahn bestimme, bedenklich.

Die Eltern bemängeln, dass es keinen Kurs vor Beginn der Lehrtätigkeit gibt, selbst engagierte Seiteneinsteiger würden so überfordert – ein Problem, auf das auch die Lehrergewerkschaften hinweisen. Sie fordern im Rahmen des momentan von der Regierung verhandelten Maßnahmenpakets gegen den Lehrermangel auch ein Programm für Seiteneinsteiger. Nach dem Vorschlag der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sollen Akademiker erst in einem mehrere Monate dauernden Fortbildungsprogramm qualifiziert werden, bevor sie in den Unterricht gehen.

Momentan haben Seiteneinsteiger ab der zweiten Schulwoche jeden Donnerstag eine Fortbildung. „Da geht es aber nur um minimale Grundlagen wie Schulrecht oder Lehrpläne“, sagt Seymer. Außerdem falle an dem Tag wieder der Unterricht aus oder muss vertreten werden. In Chemnitz besuchen Seiteneinsteiger an Grundschulen an zwei Tagen in der Woche Kurse an der Universität.

Belastung fürs Kollegium

Das Kultusministerium argumentiert, dass die Qualifizierung der Seiteneinsteiger sehr unterschiedlich sei – je nachdem, ob sie an der Universität oder der Fachhochschule studiert haben, ob das studierte Fach zu den Schulfächern passt, sie Pädagogen sind, und an einer Grund- oder Oberschule unterrichten werden. Zum Schuljahr 2016/17 wurde begonnen, „eine sachsenweit abgestimmte, inhaltlich und strukturell einheitlich gegliederte, kompakte Fortbildungsmaßnahme für Seiteneinsteiger anzubieten.“ Die Neulehrer verpflichten sich auch, an einer berufsbegleitenden Qualifizierung teilzunehmen – etwa einem Lehramtsstudium, für das sie sich allerdings bewerben müssen. Bei befristeten Einstellungen und kurzzeitigen Einsätzen werde eine solche Verpflichtung zur Qualifizierung nicht auferlegt, so die Sprecherin des Kultusministeriums.

Zusätzlich werden den Neulehrern in den Schulen Mentoren an die Seite gestellt. Das sei eine zusätzliche Herausforderung für die Lehrerkollegien, sagte Kultusministerin Brunhild Kurth (CDU) am Anfang des Schuljahres. Das organisiere die Dresdner Schule sehr gut, sagt Seymer. Es gebe Mentoren für jedes Fach, die sich auch mehr als eine Unterrichtsstunde Zeit nehmen. „Das sieht an anderen Schulen ganz anders aus.“