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Profis mit Profil

Rund um Ostern müssen Millionen Autobesitzer ihre Räder wechseln. Selbst ist der Mann, sagen viele. Doch das ist inzwischen gar nicht mehr so einfach.

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© Jürgen Lösel

Von Ulrich Wolf

Es ist so weit: Das O naht. O wie Ostern. Es wird wärmer, und der Reifenhandel ruft uns zu: „Steigen die Temperaturen auf über sieben Grad, dann verlieren Winterreifen ihre optimalen Hafteigenschaften. Höchste Zeit für den Wechsel auf Sommerreifen!“

Außen ist nicht mehr schön. Die Gewichte werden beim Auswuchten nun meist auf der Innenseite der Felge geklebt.
Außen ist nicht mehr schön. Die Gewichte werden beim Auswuchten nun meist auf der Innenseite der Felge geklebt. © Jürgen Lösel

Für Annegret Döring heißt das: Hochbetrieb. Die 31-Jährige leitet die 1963 von ihrem Großvater gegründete Reifen und Autoservice Döring GmbH. Sie ist Chefin von 15 Mitarbeitern, dirigiert den halbjährlichen Reifenwechsel-Wahn an drei Standorten. Die Zentrale ist ein Hinterhof in der Dresdner Neustadt. In ihrem Büro spielt das Telefon Hölle. Die dunkelblonden Haare hat sie hinten mit einem weißen Band zusammengebunden, durch ihre grün geränderte Brille schaut sie tippend auf die Tastatur, ihre Ohrstecker glitzern im Licht. Eine schwarze Arbeitsjacke trägt sie, doch die ist ganz sauber. Annegret Döring macht heute nur Termine, eine halbe Stunde je Reifensatz-Wechsel setzt sie an. Dazwischen wird der Rest getaktet: Reparaturwünsche an Stoßdämpfern oder Bremsen, Durchsichten, Tüv, Asu.

„19. April, neun Uhr? Nein, da ist voll. Aber um halb elf ist noch was frei.“ Sie druckt Rechnungen aus, ein Kunde zahlt: gut 70 Euro für Reifenwechsel, Auswuchten, Lagern. Eine Mittdreißigerin nimmt ihre Winterreifen mit. „Zwei im Kofferraum, zwei auf dem Rücksitz“, ruft ein Monteur. Kaum ist sie weg, betritt ein älterer Herr das Büro. „Wollen Sie selber fahren? Oder soll der Kollege das Auto fahren?“, fragt Annegret Döring. „Nein“, antwortet der Herr. „Dann fahren Sie es, in die drei, bitte.“

An der Hebebühne drei steht Michael Trapp. Der 40-Jährige ist gelernter Vulkaniseur. „Schreiben Sie Reifenmechaniker“, sagt er. Man könnte auch „Reifenbäcker“ schreiben. So zumindest nennt die Branche die Vulkanisation, die letzte Station der Reifenherstellung, bei der sich in einer Presse unter hohem Druck und Temperaturen von bis zu 200 Grad Kautschuk und Schwefel zu einem elastischen Gummi verbinden. Trapp wird heute viele gebackene Reifen in die Hand nehmen. Um neun hat seine Schicht begonnen. „Normalerweise brauche ich eine Viertelstunde pro Auto.“

Trapps Reich riecht nach Gummi und Öl. Im Radio lässt Hitradio RTL die „Ghostbusters“ los. Dann kommt der ältere Herr mit seinem Auto gefahren, ein blauer VW-Passat. Es ist 10.41 Uhr, als Trapp den Kofferraum aufmacht und die Radsicherungen rausholt. Das sind Spezialmuttern, die vor Räderklau schützen. „Sehen Sie“, sagt Trapp. „Ein klassisches Rentnerauto: Decke drin und ordentlich aufgeräumt.“

Mit den Senioren ist auch Annegret Döring zufrieden. „Die sind pünktlich“, sagt sie. „Wir haben aber mittlerweile den meisten Kunden beigebracht, sich rechtzeitig zu melden.“ Die gefragtesten Typen unter Tausenden Reifen tragen bei ihr die Nummern 205/55/16 und 225/45/17. „Das sind die Renner, die werden viel gekauft.“

Eine komplette Nummer wie 205/55/R/16/91/W drückt viel aus: Die 205 steht für die Reifenbreite in Millimetern. Die 55 gibt die Höhe als Verhältnis von Flankenhöhe zur Reifenbreite in Prozent an (55 Prozent von 205 = 113 Millimeter). Das R steht für Radialreifen, bei denen die Kunstfaserfäden des Reifenunterbaus im 90-Grad-Winkel zur Laufrichtung angeordnet sind. Die 16 ist der Felgendurchmesser in Zoll (also 40,64 Zentimeter). Die 91 resultiert aus einem eigens geschaffenen Traglastindex und bedeutet: Dieser Reifen darf mit maximal 615 Kilogramm belastet werden. Das W entstammt einem Geschwindigkeitsindex und erlaubt bis zu 270 Stundenkilometer.

Ein Tempo, das der Rentner mit dem blauen Passat wohl nie erreichen wird. Es ist 10.43 Uhr, als Vulkaniseur Trapp das Fahrzeug auf die Arme der Hebebühne schiebt. Die Hydraulik hievt das Auto hoch. Trapp greift zum Druckluft-Schlagschrauber. Klack, klack, klack rattert es wie ein Maschinengewehr in der Ferne. Der erste Reifen hinten rechts hat nach 30 Sekunden verloren.

Der zweite Reifen hinten links leistet Widerstand. Er klemmt, Trapp holt den Hammer, schlägt im Rhythmus: Ta-Ta-Ta (laut), Ta-Ta-Ta, Ta-Ta-Ta (leise). Einmal fest, zweimal nachfedern. Klingt professionell, hilft aber nicht wirklich. Noch mal der Schrauber, höhere Schlagkraft. Der Reifen will nicht. „Das sind die Fälle, in denen ich es nicht in 15 Minuten schaffe“, sagt Trapp. Salz habe die Schrauben festrosten lassen. „Mit Gewalt kannste da nichts machen“, betont Trapp. „Man braucht Gefühl, da darf nichts kaputtgehen.“ Schließlich gibt hinten links doch auf. Vorne links ist ganz locker drauf. Aber vorne rechts, der Reifen will’s auch wissen. Schlagschrauber, Hammer, Schrauber, Hammer. Leise rieselt der Rost. Um 10.49 Uhr hat Trapp drei Räder runter. Er lässt vorne rechts erst einmal dran und geht ins Lager.

„Schicken Sie Ihre Reifen in den Urlaub – Vorteile unserer professionellen Reifeneinlagerung.“ Der Spruch hängt an einer Wand hinter Annegret Döring. Etwa 1  000 Reifensätze lagern in ihrem Betrieb. Wert: mehrere 10 000 Euro. Das Sommerlager sei wertvoller als das im Winter, sagt sie. „Wegen der Alu-Felgen.“ Der Computer spuckt für jeden Kunden eine Reifennummer aus, die wird mit wasserfester Kreide auf die Reifen geschrieben. Auf kleinen Scheinen notiert Döring, wo der Reifensatz eines Kunden lagert und heftet alles ab. „Ist das Profil abgelaufen, erfassen wir das, schicken dem Kunden ein Neureifen-Angebot und bitten ihn, zum nächsten Wechsel vorfristig zu kommen“. Nehme der Kunde die Offerte an, „montieren wir die neuen Reifen schon vor der heißen Phase drauf und lagern sie wieder ein.“

Gesetzlich vorgeschrieben ist eine Profiltiefe von 1,6 Millimetern, Döring empfiehlt bei Sommerreifen allerdings zwei Millimeter, zumindest sollte der äußere Rand eines Eineurostücks im Profil verschwinden. Ganzjahresreifen mit der Bezeichnung M + S (Matsch und Schnee) hält Döring nur für einen Kompromiss, etwa für einen Zweitwagen, mit dem man nicht viel unterwegs ist im Jahr. „Wer aufs Auto bei Wind und Wetter angewiesen ist, der sollte es nicht machen.“

Auch für die Frist, nach der Reifen das Zeitliche segnen, hat Döring eine konkrete Vorstellung. „Maximal acht Jahre“, sagt sie. Auch dafür gibt es eine Nummer. Steht auf dem Reifen etwa „2509“, wurde er in der Kalenderwoche 25 im Jahr 2009 hergestellt. Bis zu 4 000 Altreifen gelangen bei Döring jährlich in den Müll, in ganz Deutschland sind es rund 72 Millionen.

Neue Reifen bestellt Annegret Döring über ihren Fachhändler namens Point-S. Die Hessen liefern alle gängigen Marken von Bridgestone bis Vredestein. Rund die Hälfte aller verkauften Pkw-Reifen in Deutschland werden über Händler verteilt, die von den Autoherstellern unabhängig sind: fast 50 Millionen Stück. Dörings gefragteste Marken sind Continental, Goodyear-Dunlop und Firestone. Für sie selbst ist „Michelin der Mercedes unter den Reifen, wegen der Laufleistung“. Die Preisspanne ist gewaltig: Sie reicht bei der Größe 205/55/R/16 von 37,50 Euro für einen Reifen des chinesischen Herstellers Sunny bis zu 351,50 Euro für einen von Michelin, allerdings mit weißem Seitenwandstreifen.

Die Chefin fährt also ab auf Michelin, ihr Mitarbeiter Trapp auf Hankook. Die Reifen dieser südkoreanischen Marke hätten das beste Preis-Leistungs-Verhältnis, sagt er. Was beide fasziniert: die Geschwindigkeit der Reifenwechsel in der Formel Eins. Drei Leute je Position, nur eine Schraube, vorbereiteter Luftdruck. Was beide nervt: Kunden mit großen Autos, die sich erst bei ihnen beraten lassen und dann im Internet ihre Reifen bestellen, „weil die dort zehn Euro günstiger sind“. Oder Kunden, „die notorisch nicht zu ihrem Termin oder immer auf den letzten Drücker kommen.“

Bei „relativ vielen Fahrzeugen“ würden sie auch Mängel entdecken, etwa wenn die Bremsscheiben für gerade noch 500 Kilometer reichten. „Dann müssen wir Alarm schlagen, dürfen aber niemanden aus dem Verkehr ziehen.“

Beim blauen Rentner-Passat wird Trapp keinen Alarm schlagen. Er rollt die Sommerreifen aus dem Lager, zwei gleichzeitig. Dunlop-Sport, 235/40/18, Aluminium-Felgen. Mit einer Spezialzange löst er die alten Gewichte auf der Innenseite der Felge, entfernt die Klebereste mit einem Schleifer. Dann geht er an die Auswucht-Maschine, um die Gewichte neu zu justieren. „Stimmt die Platzierung niccht, spürt der Fahrer ein Wackeln im Lenkrad.“ Ein Bildschirm wie im Kontrollraum eines Kraftwerks zeigt an: 25-Gramm-Gewicht auf zwölf Uhr. Er befestigt die neuen Gewichte, es sind Kleberiegel. „Auf der Außenfelge will die kaum noch jemand, das sieht nicht so schön aus.“

Um 11.05 Uhr beginnt Trapp mit der Montage der Sommerreifen. Aufsetzen, mit der Hand anschrauben, Schlagbohrer, fünf Schrauben je Rad: unten Mitte, schräg oben rechts, schräg unten links, schräg oben links, schräg unten rechts. Zwei Minuten braucht er für drei Räder.

Aber da ist ja noch der widerborstige, der Reifen vorne rechts. Ein Schraubsteckschlüssel kommt zum Einsatz, erneut der Hammer. Wieder rieselt der Rost. Trotzdem rät Trapp: „Die Schrauben nie einfetten, die müssen fest sein.“ Keramikpaste sei da das höchste der Gefühle, aber nicht am Konus.

Um 11.10 Uhr macht der reche Vorderreifen dann doch seinem Sommerkollegen Platz. Jetzt muss Trapp noch die Luftdrucksensoren auslesen, die sind seit November 2014 bei Neuwagen Pflicht. 2,8 bar, festziehen, Bühne runterlassen, um 11.18 Uhr ist alles fertig. 26 Minuten – ein wirklich schwieriger Fall. Trapp misst noch das Profil der Winterreifen (ausreichend), wäscht und markiert sie. Dann wandern sie ins Lager.

Wo der Platz eng wird. „Weil die Räder immer größer und schwerer werden“, sagt Annegret Döring. Immer mehr Kunden hätten inzwischen einen SUV, ein Fahrzeug, das einem Jeep ähnelt. „Und selbst der Polo muss 17 Zoll haben und nicht mehr 13.“ Wenn man so wolle, könne man an einem Reifenlager den Grad der Bescheidenheit in einer Gesellschaft erkennen, sagt die Chefin.

Tolle Renditen hat sie nicht, ein Anlass für Trübsalblasen ist das aber nicht. „Die Zeiten des Selber-Wechselns gehen zu Ende.“ Reifendruckkontrollsysteme müssten kalibriert, Drehmomentschrauben fachgerecht angezogen werden, das Auswuchten – all das gehe nur bei Profis.

Vulkaniseur Trapp wischt sich die Hände an einem Lappen. Er erzählt, dass die Fahrer meist zum Auto passten. „Ein alter Saab und ein Typ im Anzug sind eher selten.“ Jeder Kofferraum und jede Tür eröffneten ihm ein Stück weit den Blick ins Private: Bierkästen, Holzkisten mit Krimskrams, Gartengeräte, Blumenerde, Kindersitze, Steppdecken, Pappbecher. „Wackelhunde gibt es kaum noch.“

Bis zu 15-mal wird Trapp an diesem Tag noch Kofferraumklappen und Autotüren öffnen, bis 18 Uhr, dann hat er Schluss. Das nächste Modell wartet schon: ein weißer Volvo XC-60. Und nach O wie Ostern heißt es für Annegret Döring wieder: Warten bis zum nächsten O. Wie Oktober. „Im Winter ist es noch schlimmer. Erst recht, wenn es im Oktober mal schneit.“