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Nur mal kurz die Ohren kraulen

Das Kaninchen des Jahres heißt „Sachsengold“. Keiner züchtet es länger als Armin Löwe aus Niederseidewitz. Ein Stallbesuch.

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© André Wirsig

Von Karin Großmann

Das macht der Uwe sehr schön. Er stemmt die Vorderbeine auf den Tisch und schaut interessiert in die Luft. Er hat nichts dagegen, dass man ihn sanft hinterm Ohr krault. Dann erzeugt er ein feines Geräusch. Es klingt wie heiseres Räuspern. Man könnte es Knurxeln nennen. Der Uwe, also der Knurxel-Uwe, ist ein mehrfach ausgezeichneter Fellstar, warmes Rotbraun mit einem Hauch Gold. Noch flauschiger geht nicht. Hasenstreicheln wäre ein Traumberuf. Pardon, natürlich ist der Uwe kein Hase, er ist ein Kaninchen, dazwischen liegen genetische Welten, selbst wenn seine Lieblingsfrauen und Töchter Häsin heißen. Einen Vornamen haben sie nicht erhalten. Da klafft eine feministische Lücke. „Na, komm mal her“ oder „Geh mal rüber“, sagt Armin Löwe, wenn er die Käfige säubert. Zwei Reihen übereinander stehen sie an den Wänden entlang. Mit 75, sagt er, schafft er nicht mehr alle an einem Tag. Ein schmaler Mann mit breiten, knotigen Arbeitshänden. „Die Käfige überleben mich mal.“

Vielleicht kommt ja eine Möhre vorbei? Ein „Sachsengold“ macht neugierig Männchen.
Vielleicht kommt ja eine Möhre vorbei? Ein „Sachsengold“ macht neugierig Männchen. © André Wirsig
Nein, Kaninchen legen keine Ostereier. Der Nachwuchs ist zehn Tage alt.
Nein, Kaninchen legen keine Ostereier. Der Nachwuchs ist zehn Tage alt. © André Wirsig

Durch die hohen Fenster kommt viel Licht herein. Hier und da ist leises Rascheln zu hören. Husch und weg. Irgendwo knuspert einer. Einer knuspert hier immer. Drei Jungkaninchen drängeln sich hinterm Gitter. Sie könnten ja was verpassen. Womöglich kommt eine Möhre vorbei. Den ehemaligen Hühnerstall hat Armin Löwe umgebaut, als er mit seiner Familie vor Jahrzehnten nach Niederseidewitz in den geräumigen Bauernhof der Vorfahren zog. Scheune, Pferdestall, Wohnhaus. Die Heuballen stapeln sich unterm Vordach. „Heu ist das Brot der Kaninchen“, sagt Armin Löwe. Forke und Schubkarre stehen griffbereit. Ein Oberseidewitz gibt es auch. Die Orte liegen in der Nähe von Bahretal, was schon mal das Tor zur Sächsischen Schweiz genannt wird. Vom Tor bis zur eigentlichen Attraktion dauert es meist ein Stück.

Ein Knurxel-Uwe ist Attraktion genug. Aufgeregt beben die Nasenflügel. Was für ein schönes Schnobern. Das Prachtexemplar gehört zur Rasse „Sachsengold“, und „Sachsengold“ wurde mit großem Vorsprung zum Rassekaninchen des Jahres 2017 gewählt. Die Region kann auch mit guten Nachrichten Schlagzeilen machen. Japanerfarbig-weiße Holländer landeten abgeschlagen auf dem zweiten Platz. Das wundert einen nicht weiter.

Die Wahl fand ordentlich geheim mit Kandidatenliste, Urne und Auszählung statt. Das Ergebnis wurde im Fachblatt „Kaninchen“ veröffentlicht, wo sonst; rechtzeitig vor Ostern. Wann sonst. So eine hasenfreundliche Zeit kommt nicht gleich wieder. Was haben Uwe und die Seinen, was andere nicht haben?

Armin Löwe kann das erklären. In manchem Jahr zieht er bis zu sechzig Jungtiere auf. Er hat sich an der Wahl beteiligt, und wenn er ein Mann großer Worte wäre, würde er von Ehre, Freude und verdienter Anerkennung reden. Er sagt: „Soso. Das ist ja mal schön.“ Dabei dürfte er sich persönlich gemeint fühlen. Keiner in Deutschland züchtet „Sachsengold“ so lange wie er. Und weil er gerade beim Schweigen ist, sagt er auch nicht, dass er vor wenigen Tagen die große goldene Ehrennadel des Landesverbandes der sächsischen Rassekaninchenzüchter bekommen hat.

Lieber erzählt er die Geschichte, die zum Ursprung von Knurxel-Uwe führt und ins Jahr 1925 nach Röhrsdorf bei Meißen. Dort träumte der Züchter Richard Bennack von einem niedlichen Goldhasen. Er nahm einen strohgelben Rammler, fügte etwas Kleinchinchilla hinzu, würzte mit Gelbsilber und Schwarzloh und hätte bei seinem Hin- und Herkreuzen das Wunder fast zustande gebracht. Sogar die Augenfarbe passte. Das intensive Braun soll von einem Havanna-Kaninchen stammen. Doch dann kam der Krieg dazwischen, und die leeren Bratpfannen lieferten die stärkeren Argumente. Sensible Nachbarn tauschten ihre Kaninchen vorm Schlachten miteinander.

Beim zweiten Versuch hatte Bennack mehr Glück, auch wenn er es nicht mehr erlebte, dass seine Zucht 1961 als eine neue Rasse anerkannt wurde. Sein Sohn setzte die Arbeit fort. Sachsen wurde zur Hochburg der Rotgoldenen. „Züchten heißt in Generationen denken“, sagt Armin Löwe.

Das kennt er von Pferden genauso. Fast fünfzig Jahre lang arbeitete er im Landgestüt Moritzburg. Er trainierte die Tiere für die Hengstparaden und ritt als Jockey bei Turnieren mit. Auch bei Pferden mag er die rothaarigen, die Füchse. „Aber die Kaninchen sind doch sein Ein und Alles“, sagt seine Frau. Manchmal darf sie beim Füttern helfen. „Aber ich mach es nicht richtig“, sagt sie und zieht spöttisch die Augenbrauen nach oben. Neben den Kaninchen stehen in Niederseidewitz immer noch zwei Zuchtstuten im Stall. Fotos zeigen die Enkeltöchter als stolze Reiterinnen auf Fohlen. Der Sohn betreibt ein eigenes Reitzentrum bei Großharthau.

Schon zwei Jahre nach dem anerkannten Zuchterfolg fütterte Armin Löwe sein eigenes „Sachsengold“ und brachte bald eine Trophäe nach der anderen von Ausstellungen nach Hause. „Nationaler Champion“ und „Sachsenmeister“ steht auf den Pokalen. Ein Katalog dokumentiert, dass Löwe bereits 1965 bei der DDR-Jahresschau in der Dresdner Stadthalle, dem heutigen Militärmuseum, einen ersten Preis gewann. Etliche Urkunden bestätigen ihn als Eigentümer von sogenannten V-Tieren: Sie tragen das höchste Prädikat „Vorzüglich“.

Was das „Sachsengold“ so besonders macht? Knurxel-Uwe lauscht wie ein Model, dessen Vorzüge auf dem Catwalk gepriesen werden. „Bei der Kaninchenzucht kommt es auf die drei Fs an“, sagt Armin Löwe, „Form, Farbe und Fell.“ Seine Tiere erfüllen die Norm. Sie sehen aus wie nette, kompakte Walzen; breite Brust und kräftige Schultern. Der Kopf sitzt direkt darauf. Das erspart zumindest den Halsschmerz. Armin Löwe packt Uwe im Nacken, nimmt ihn auf den Arm und lobt: „Rund wie ein Kinderpopo.“ Das Kaninchen bringt das Idealgewicht von drei Kilogramm auf die Waage. Ältere Damen, heißt es, dürfen einen Wammenansatz haben. Das wollen wir uns merken. Imponierendes Fell: mittellang und sehr dicht. Die Farbe ist sowieso traumhaft.

Und die Ohren natürlich. „Sie sollen aufrecht getragen werden“, sagt Armin Löwe. Wie das Victoryzeichen stehen sie stramm im spitzen Winkel. Fleischig und weich zugleich. Mit einem Schlappohr wäre der Uwe abgemeldet. Haltungsnote „n.b.“: nicht befriedigend. In der DDR galt ein Längenohrmaß von zehn Zentimetern als ideal. Das fand Löwe korrekt. Jetzt ist von ausgeglichenen Proportionen die Rede. Das findet Löwe zu ausdeutbar. In vierzig Jahren deutscher Teilung hat sich manches auseinanderentwickelt. Das macht vor Kaninchenställen nicht halt. Im Westen sieht das „Sachsengold“ einen Hauch heller aus als im Osten. Nachdenklich sagt Armin Löwe: „Man hätte es bei der Vereinigung machen sollen wie bei der Kaninchenzucht. Da nimmt man auch von beiden Seiten das Beste.“ Offenbar war Kaninchenzucht unter Helmut Kohls Vertragshändlern nicht verbreitet. Er schwärmte für Fische.

Knurxel-Uwe hoppelt im Stall auf dem Tisch herum. Interessante Krümel übrigens. Es wäre falsch, bei ihm von Hamsterbacken zu reden. Aber unter uns: Es sind Hamsterbacken. Eines seiner Kinder bringt die Wasserbox im Käfig zum Gluckern.

„Sachsengold“ gilt als eine der beliebtesten deutschen Kleinrassen. Das ist biologisch und politisch korrekt, auch wenn mancher beim Wort Rassezucht ein unangenehmes schnauzbärtiges Schnarren mithört. Das wird inzwischen europaweit akzeptiert. Die Schlagworte Schweiz und Sachsengold führen nicht zu einem geheimen Staatsdepot, sondern zu Züchtern in Bern, Schönbühl und Bolligen. Die sächsische Klubzentrale sitzt in Glauchau und wacht darüber, dass die Standards eingehalten werden. „Kleiner kriegt man sie schnell“, sagt Armin Löwe über seine Kaninchen. Er wurde zum Ehrenmitglied ernannt. Der Klubchef heißt Uwe.

In Deutschland befassen sich rund 700 Züchter mit „Sachsengold“. Junge Leute sind kaum dabei, sagt Armin Löwe. „Es macht immens Arbeit, und der Verkauf deckt kaum die Unkosten.“ Morgens und abends werden die Tiere gefüttert: Möhren, Rüben, gequetschte Gerste, im Sommer Grünzeug aus dem Garten. In Niederseidewitz sitzen noch einige andere Kaninchen im Stall. Worte wie Mümmelmann und Langohr sind an dieser Stelle gestrichen. Denn nun muss man ganz tapfer sein. Es ist denkbar, dass der Silbergraue diesen Ostersonnabend nicht mehr erlebt.

„Pfannentiere“, sagt Armin Löwe ungerührt. „Kaninchen sind Nutztiere, das Fleisch wird gern gekauft, weil es nährstoffreich ist und cholesterinarm. Außerdem gibt es jetzt diese Schussapparate. Da fallen sie einfach um. Man spricht nicht gern darüber, aber es gehört dazu wie der Tod zum Leben.“ Man muss nicht bei allem dabei sein. Das Internetkochbuch kennt 1 858 Kaninchenrezepte, mit und ohne Rotwein, Knoblauch oder Basilikum.

Wer erst mal ein warmes, bibberndes, blindes Bündel Fell in der Hand hielt, wird es wohl künftig bei Basilikum, Knoblauch und Rotwein belassen. Vier Winzlinge liegen eingegraben im Heu. Im Nachbarkäfig baut eine Häsin aus Halmen und Haar den nächsten Bau. Armin Löwe erklärt, dass sich manche Erbmerkmale erst in der zweiten oder dritten Generation zeigen, die positiven wie die negativen. Deshalb hat der Knurxel-Uwe nicht nur mehrere Frauen, er darf auch mit Töchtern und Enkelinnen. Das soll hier aber nicht weiter vertieft werden. Armin Löwe führt über die Verwandtschaftsverhältnisse Buch, dafür benutzt er noch die Tabellen vom Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter der DDR, weil sie übersichtlicher sind. Er verantwortet auch das Zuchtbuch im Ortsverein der Kaninchenzüchter.

Am Ende bleibt nur das Fell übrig. Es wird weggeworfen. Die Fahrt zum Gerber kostet mehr als es einbringt, sagt Löwe. Dabei würde eine Kaninchenfellweste wärmen. Aber wer würde in Anwesenheit von Uwe über Kaninchenfellwesten reden? Er knurxelt vergnügt vor sich hin.