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„Nichts kann Muttermilch ersetzen“

Frauenmilch-Sammelstellen für bedürftige Säuglinge waren begehrt, auch in Zittau. Für viele kam das Aus. Zu Recht?

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© Juppe

Von Bernd Dressler

Endlich! Von einem Babyboom in Sachsen ist jetzt die Rede. Zum Glücksgefühl der Mütter gesellt sich vielleicht die Freude, stillen zu können. Manchmal bleibt sogar Muttermilch übrig. Meistens wird sie abgepumpt und – entsorgt. Dabei könnten andere Mütter solche überschüssige Milch gut gebrauchen. Doch längst hat sich die Einstellung durchgesetzt: „Wozu der Aufwand, wenn es gut verträgliche Babyfertignahrung gibt?“

Marie-Elise Kayser, „Mutter“ der Frauenmilch-Sammelstellen
Marie-Elise Kayser, „Mutter“ der Frauenmilch-Sammelstellen © SZ-Archiv

Aber Milchpulver ist aus Kuhmilch. „Wir haben Menschenkinder und keine kleinen Kühe“, hat es deshalb einmal eine Dresdner Kinderärztin zugespitzt formuliert und damit auf den hohen Wert von Muttermilchspenden hingewiesen.

Vom Stillen ihrer drei Kinder angeregt, begann vor fast 100 Jahren die in Görlitz geborene Kinderärztin Marie-Elise Kayser erstmals überschüssige Frauenmilch zu sammeln. Sie sollte bedürftigen Neugeborenen zugutekommen. „Wer reichlich Nahrung hat, der möge von seinem Reichtum abgeben, wenn es auch noch so wenig ist“, warb sie 1919 in Magdeburg, wo sie inzwischen lebte, für ihr Vorhaben. Das war die Geburtsstunde der ersten Frauenmilch-Sammelstelle in Deutschland. Solche Einrichtungen etablierten sich bald in allen größeren Städten und lösten das weit verbreitete Ammenwesen ab. Eine Amme, also eine Fremdmutter, stillte neben dem eigenen noch ein anderes Kind mit.

In Görlitz siedelte sich die wohl bedeutendste Frauenmilch-Sammelstelle der Region an. Sie erfüllte eine wichtige Umlandfunktion, besonders in den Mangeljahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch hatten die Milchküchenschwestern auf den Kinderstationen der Krankenhäuser in den Nachbarkreisen mitunter nicht einen Tropfen zum Auffüllen der Flaschen. So wurde im Dezember 1955 in Zittau eine weitere Frauenmilch-Sammelstelle für die Oberlausitz eingerichtet.

Schwester Erna Hiltscher schrieb im Januar 1957 in einem Erfahrungsbericht: „Die Sammelstelle holt täglich die Spendenmilch aus den Haushalten und sorgt dafür, dass dadurch die Mutter entlastet wird und gleichzeitig in allen Fragen der Säuglingspflege beraten wird. Wir sind auch bei ungünstiger Wetterlage jeden Tag unterwegs, obwohl beim Transport manche Schwierigkeiten zu überwinden waren.

Belohnt wurde dieser Einsatz dadurch, dass es uns gelang, ohne Hilfe der Görlitzer Sammelstelle den Bedarf unserer Kinderklinik zu decken. Wir konnten sogar Frauenmilch an andere Kreise weitergeben, so an das Kinderkrankenhaus Meißen.“ Zum Erfolg trugen viele Helfer bei. Erna Hiltscher nannte damals den VEB Kraftverkehr, das Rote Kreuz am Bahnhof und den Pförtner vom VEB Kraftfahrzeugwerk Phänomen.

Von 1969 bis 1993 wurde die Frauenmilchsammelstelle von Eleonore Wittig geleitet. „Es gab viele Fortschritte, spezielle Taschen erleichterten den Transport. Ordnung und Hygiene in der Milchküche wurden großgeschrieben, sie war das Herz der Kinderklinik“, erinnert sie sich. Untrennbar sei der gute Ruf der Sammelstelle mit Dr. Gerhard Gruner, dem langjährigen Chefarzt der Zittauer Kinderklinik, verbunden, sagt die heute 78-Jährige.

Muttermilchspenderinnen bekamen eine Vergütung. Bereits vor 60 Jahren gab es für 1 000 Gramm gespendete Frauenmilch 10 Mark und eine Lebensmittelzusatzmarke (2015 wurde der Liter mit 5,63 Euro entschädigt). Frauen, die über die entsprechende Milchbildung verfügten, konnten sich also durchaus ein gutes Zubrot verdienen. „Einige versuchten, das auszunutzen, indem sie die Spendermilch mit Kuhmilch streckten, um die Abgabemengen zu erhöhen. Doch im Labor fiel das sofort auf“, weiß die langjährige Stationsschwester der Zittauer Kinderklinik Marianne Henkel (85) aus Oberoderwitz.

Aber nicht nur in Zittau, sondern auch im Krankenhaus Ebersbach und bis zur Einstellung des Klinikbetriebes auch in Löbau war Muttermilch der Zittauer Frauenmilch-Sammelstelle gern gesehen. Schwester Bärbel Malik aus Neusalza-Spremberg (sie arbeitete bis zur Auflösung auf der Ebersbacher Kinderstation) sagt: „Wir haben in Zittau nach Bedarf bestellt und bekamen die Milch von dort in Flaschen geliefert.

Auch das Leergut wurde wieder abgeholt.“ Wie wertvoll Muttermilch sein kann, hat Schwester Bärbel oft erfahren. Ein Fall hat sich ihr besonders eingeprägt: Als sie ihre Lehre abschloss, bekam sie einen Säugling mit einer Gluten-Unverträglichkeit als Prüfungskind. Seinen Brei hat sie mit Muttermilch angedickt, das half.

Das Aus für die Frauenmilchsammelstellen kam nach der Wende, in Zittau 1993. Dr. Barbara Pollack, bis zum Ruhestand Kinderärztin im Zittauer Klinikum, bedauert das, zumal sie als Mutter eines Frühchens die Vorzüge von Muttermilchspenden aus eigener Erfahrung schätzen lernte. Gründe für die Schließungen sind ihrer Meinung nach die verschärften Tests, den sich Spenderinnen heute unterziehen müssen, aber auch die Lobby, die hinter den Produzenten von Babynahrung steckt.

Muttermilchspenden seien zu einer teuren, kaum noch bezahlbaren Angelegenheit geworden, schätzt die heute 73-Jährige ein. Laut Fachpresse kostet ein Liter Muttermilch rund 50 Euro, wenn er von einer Milchbank an Eltern oder Kliniken außerhalb abgegeben wird. Während es 1999 noch 19 Frauenmilch-Sammelstellen in Deutschland gab (alle in der ehemaligen DDR), so hat sich diese Zahl inzwischen weiter reduziert und dürfte auf den Stand vor 1939 gesunken sein. In der Region blieb nur die Frauenmilch-Sammelstelle Görlitz am Städtischen Klinikum erhalten.

Umso nachdenkenswerter ist das nachfolgende Zitat. Es stammt von der couragierten Erna Hiltscher, der ersten Leiterin der Zittauer Frauenmilchsammelstelle: „Ich möchte darauf hinweisen, dass von all den Präparaten, die für die Säuglingsernährung hergestellt werden, keines die Muttermilch ersetzt.“