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Nicht meckern, sondern machen

Kino in der Bäckerei, Rock in der Nudelfabrik: Rund um Zittau blüht Sachsens wohl lebendigste ländliche Kulturszene. Ihre Wurzeln schlug sie noch in der DDR.

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© Kneit Gurre

Von Oliver Reinhard

Die Vormittagssonne poliert die Johannisbeeren und lässt sie glänzen wie Rubine. Vom Fell zweier Pferde schwirren Fliegen auf und summen hungrig zum Pflaumenbaum. Die beiden Hunde unter seinen Blättern heben nur kurz und ohne echtes Interesse ihre Köpfe, als draußen im Feld ein Traktor losnagelt, betten die Schnauzen zurück zwischen die Pfoten und schnaufen zufrieden ins Gras ... Zugegeben, es liegt verdammt nahe am Klischee, dieses zum Seufzen schöne, wiesenblütenhonigsüße Landidyll im ostsächsischen Neundorf.

Die Wienerin Veronika Kirchmaier kam wegen des Lausitzers Thomas Pilz nach Mittelherwigsdorf und blieb. Die beiden bewohnen und betreiben die Kulturfabrik Meda.
Die Wienerin Veronika Kirchmaier kam wegen des Lausitzers Thomas Pilz nach Mittelherwigsdorf und blieb. Die beiden bewohnen und betreiben die Kulturfabrik Meda. © Kneit Gurre

„Ja, schon ganz nett hier“; verständlich, dass der Bewohner all dieser Schönheit sie etwas gelassener quittiert, wenn auch mit schlitzohrigem Grinsen. „Naja, so ganz daran gewöhnen, wie toll es hier ist, werde ich mich wohl nie“, schiebt der 34-Jährige hinterher, hebt die Mundwinkel und lässt die Zähne im gestutzten Bart leuchten. Damit, mit der dunklen Hornbrille und dem dezent coolen Karohemd sieht Lutz Sievert eher aus wie ein Hipster aus Berlins Kollwitz-Kiez oder wenigstens der Neustadt in Dresden. Außerdem liebt er den Film, das Kino – und ist trotzdem aus der Stadt hergezogen, in die Oberlausitzer Oberpampa?

Falsche Frage: Gerade deshalb hat sich der gebürtige Meckpommer ja hier niedergelassen. Weil die Kinohochburg Dresden zwar nett zum Studieren war, aber auf Dauer zu groß. „Und weil es hier alles gibt, was ich zum Wohlfühlen brauche. Ein Leben, das man sich leisten kann, die Landschaft, Freunde, die tolle Kulturszene, und jede Menge Kino.“

Tatsächlich breitet sich Sachsens wohl blühendste nicht großstädtische Kulturlandschaft im südöstlichen Fortsatz aus, im Dreiländereck des Zittauer Beckens. Im klassischen strukturschwachen Raum mit wenig Arbeit und wenig Bewohnern.

Trotzdem kann man keine Handvoll Dörfer durchfahren, ohne Orte zu passieren, an denen irgendwer irgendwas mit Kultur macht. Wie das Atelier Oberlausitz in Kottmar, die Freilichtbühnen in der Weinau, in Jonsdorf, am Oybin. Wie die Hillersche Villa in Zittau, die Kulturfabrik Mittelherwigsdorf, das Kunstbauerkino in Großhennersdorf. Um nur einige zu nennen. Noch bunter und sogar grenzübergreifend treibt’s die Region, wenn im Mai an zig Lokalitäten das Neiße Filmfest stattfindet und im Oktober das Mandau Jazzfestival.

Dieser Reichtum wäre ohne Bürger-Engagement so nicht möglich, ohne die Hände von Kreativen, von Freaks, Fans, Helfern und Freiwilligen. „Es ist für mich immer noch faszinierend, dass sich hier so unheimlich viele Leute für Kultur einsetzen“, schwärmt Lutz Sievert. Selbstredend ist er einer davon. „Als ich damals gemerkt habe, dass Studieren noch nichts für mich ist, habe ich eine Ausbildung im sozialen Bereich gesucht und sie 2006 in Großhennersdorf gefunden, im Katharinenhof.“ Direkt neben der Einrichtung für behinderte Menschen liegen Umweltbibliothek und Kunstbauerkino. „Die Kinokneipe war praktisch mein Zuhause. Und als ich gefragt wurde, ob ich Lust hätte, im Kino mitzuarbeiten, habe ich sofort ja gesagt.“

Was Lutz Sievert anfangs noch nicht wissen konnte: Als der Ex-Lehramtsstudent die Ausbildung begann, landete er punktgenau dort, wo der kreative kulturelle Reichtum der Region seine wichtigste Quelle hatte; im Katharinenhof Großhennersdorf. In der Aussteigerszene der DDR. Die Einrichtung der Kirche war republikweit bekannt als Refugium für junge Menschen, die zwar nicht von ihrem Land die Nase voll hatten, aber vom Staat.

„Dort konnte man sich dem SED-System entziehen, ohne ausreisen zu müssen“, erinnert sich Thomas Pilz, der den Katharinenhof schon kannte, als er noch hauptsächlich Sohn des Pfarrers von Mittelherwigsdorf war. Mit 18 zog er am Tag der Anti-Nato-Nachrüstungs-Demo 1983 samt eigenem Plakat nach Zittau, um den Teilnehmern zu zeigen, „dass man nicht immer nur gegen die Raketen der anderen protestieren sollte.“ Dort traf er zwei Dutzend langhaarige Frauen und Männer mit dem gleichen Anliegen – der Offene Friedenskreis Großhennersdorf. „Der Beginn einer langen und folgenreichen Freundschaft“, sagt Thomas Pilz, heute Betreiber der Kulturfabrik Mittelherwigsdorf und Beiratsvorsitzender vom Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien; ebenfalls Spätfolgen seines Erweckungserlebnisses.

Auch Pilz lernte Heilerziehung am Katharinenhof. Er mischte mit, als sich 1987, ein Jahr nach dem Berliner Vorläufer, in Großhennersdorf eine weitere DDR-Umweltbibliothek gründete, verbotene oder zensierte Literatur zugänglich machte, Netzwerke flocht und die Untergrundzeitschrift „Die Lausitzbotin“ herausbrachte.

Nach der Wende wurde aus den Reihen der Katharinenhofer etwa das Kunstbauerkino gegründet, die Kulturfabrik Mittelherwigsdorf, das Neiße-Filmfest ... und Pilz 1991 erster Leiter des Kulturzentrums Hillersche Villa in Zittau. Wie er sind die meisten Kulturmacher bis heute politisch aktive Menschen geblieben. Hierbleiber, die wollten, dass ihre lange Zeit siechende Heimat trotzdem lebenswert bleibt. Manchmal, beim Mühen durch die Ebenen, ist ihr Idealismus die wichtigste Triebkraft.

Die Hillersche Villa, eine Jugendstildame, wird zurzeit inwendig umgestaltet. Durch ihre Fenster fallen helle Vierecke aufs Parkett, im Licht tanzen Staubkörner, und wer knarzend die Halbleere durchmisst, kann die charmante Würde der alten Dame sogar hören. Das einladende Haus scheint, ähnlich wie Zittaus Hauptmann-Theater, zwar vordergründig als basisgeförderte Institution in Subventionskonkurrenz zu stehen zu den Kultureinrichtungen in freier und privater Trägerschaft. „Tatsächlich ist unser Verhältnis ein Miteinander“, sagt Jens Hommel, der die Villa seit 2015 leitet. „Das Theater und wir verstehen uns als Partner und Verbündete der übrigen Kultureinrichtungen. Wir wollen Anlaufpunkte schaffen und Kreise miteinander verbinden, die sich bisher noch nicht berühren.“

Dafür wirkt die Hillersche Villa mit ihrem Kino, Kursen, Seminaren, Ausstellungen und Konzerten in die Stadt, aber ebenso ins Land hinein. Sie ist Mitveranstalter des Neisse-Film- und Erfinder des Mandau-Jazzfestes, sie richtet im Weinaupark die Zittauer Filmnächte aus und schickt das Wandertheater Dronte durch die Region. „Es geht uns aber nicht nur um Bespaßung“, ergänzt Jens Hommel. „Wir möchten den Menschen anbieten, selber aktiv zu werden und sich mit der Geschichte und dem Hier und Jetzt unseres Dreiländerecks auseinanderzusetzen.“

Zum Beispiel über die Veranstaltungsreihe „Priber-Sommer“ mit der Geschichte des Zittauer Utopisten und Amerika-Auswanderers Christian Gottlieb Priber. Zu dessen Zeit Mitte des 18. Jahrhunderts sangen die Schüler an Zittauer Gymnasien sogenannte Humanisten-Oden. Nach langem Vergessen erklingen sie wieder, sogar am heiligen Ort, der Kirchenruine auf dem Oybin, oben im Zittauer Gebirge. Einmal im Jahr, wenn die Touristen wieder gegangen sind, steigen lateinische Gesänge aus Pribers alter Heimat zwischen den kariösen Mauern gen Himmel, im Wechsel mit Liedern der Ureinwohner Amerikas, Pribers neuer Heimat. Der Chor der Hillerschen Villa, fünfzehn bunt und entspannt gekleidete Frauen und zwei Männer, belohnt sich für die zurückliegende Saison mit Probe und Picknick im nach oben offenen Altarraum des Ex-Gotteshauses.

Auch Chorleiterin Veronika Kirchmaier wurde „von der herrlichen Gegend gefangen genommen“ und nie wieder losgelassen. Auf der Durchreise per Bahn lernte die Wienerin einen Lausitzer kennen, entflammte, legte einen Zwischenstopp ein, sah sein Zuhause und hörte seine Zukunftspläne: „Ein alter Industriebau, um mit anderen eine Gemeinschaft zu gründen und Kultur zu machen – das war immer schon mein Traum gewesen“, erzählt die 52-Jährige mit sanft durchklingendem Schmäh. Das war vor 20 Jahren, der Lausitzer hieß Thomas Pilz, hatte gerade die einstige Nudelfabrik Mittelherwigsdorf dem Abriss vor der Nase weggekauft, wollte dort leben und Filme zeigen. „Als Veronika eingezogen war und zudem ein Bildhauer und eine Musikerin, war klar, dass hier mehr passieren würde als Kino“, sagt er.

Heute locken die Eheleute in die Fabrik mit Theater, Malerei und Fotografie, mit Workshops, Konzerten und vor allem Kino. Ohne Fördermittel. Ihr Verein hat Mitglieder aus vielen Dörfern drumherum. „Wir können unsere Aktionen selbst finanzieren“, sagt Veronika Kirchmaier; es klingt durchaus stolz. „Die Kultur ist auch unsere wirtschaftliche Perspektive“.

Wer sich mit engagierten Menschen wie ihnen unterhält, spürt trotz Strukturschwäche überall vorsichtigen Optimismus. Der speist sich nicht aus Trotz: Nach jahrzehntelangem Absturz der einstigen Industrie- und Tagebauregion, schwindsüchtigeren Einwohner- und ansteigenden Arbeitslosenzahlen scheint die Talsohle in Ostsachsen endlich durchschritten zu sein. Sogar im Zittauer Becken deutet sich zartes Bevölkerungswachstum an bei sanft steigenden Beschäftigtenzahlen. Die Mieten sind niedrig, alte Häuser werden Interessenten fast hinterhergeschmissen. Sogar Polen siedeln inzwischen vereinzelt herüber und Tschechen; die boomende Region Liberec ist nur 20 Autominuten entfernt.

„Man muss den Leuten was bieten, damit sie nicht nur kommen, sondern bleiben“, sagt Lutz Sievert. Es hat zwar ein wenig gedauert, aber inzwischen wird die Zusammenarbeit beim Neiße-Filmfest mit den polnischen und tschechischen Partnern immer besser. Überhaupt hat Sievert den Eindruck, „dass sich mehr und mehr Leute, die sich für Kultur interessieren, dafür jetzt auch mal über die Grenze bewegen.“ Er selbst hat das Filmvorführen inzwischen zwar erst mal auf Eis gelegt. Die Familie, die Arbeit bei der Diakonie in Herrnhut, sein nebenher begonnenes Studium; das alles fordert viel Zeit. Aber die Jurybetreuung beim Neiße-Filmfest will und soll Lutz auf keinen Fall abgeben. „Das Festival ist auch für mich unheimlich wichtig. Aber vor allem natürlich für die Region. Weil es das einzige verbindende Element ist, das die Kulturschaffenden der Region einmal im Jahr zusammenbringt.“

Sicher, auch hier kocht mancher am liebsten sein eigenes Süppchen. Das gehört zu den wenigen Dingen, die Lutz Sievert weniger freuen. „Und dass es so schwer ist, junge Leute zum aktiven Mitmachen zu bewegen. Die nutzen das Angebot zwar, tragen aber nicht selber etwas bei. Viele von ihnen wollen auch deshalb fort, weil sie es hier öde finden. Aber nur Meckern kann jeder. Sollen sie lieber selber anpacken!“

Doch ist Selber-Anpacken auf Dauer kein Allheilmittel. Weil auch Anpacker an ihre Grenzen stoßen. „Wollen wir uns die Attraktivität der Gegend mit ihrer Ausstrahlung und Vielfalt weiter bewahren, muss die Selbstausbeutung aufhören“, fordert Thomas Pilz. Ihm geht es weniger um mehr Fördergeld als um eine fairere Verteilung: Der Kulturraum der Landkreise Bautzen und Görlitz subventioniert zwar regional Bedeutsames. „Aber es gibt ja auch die Ebene darunter, die über-örtliche, die Kultur auf den Dörfern. Dafür bräuchten wir nicht nur einen Fördertopf für die Region, sondern auch für die Kreise.“

Allerdings ist es nicht selbstverständlich, auf dem Dorf Kultur zu machen und zugleich das Dorf selbst dafür zu begeistern. Das musste auch Pilz’ Gattin erst lernen. „Anfangs hatten wir fast nur Publikum aus der Umgebung und kaum aus dem Ort“, erinnert sich Veronika Kirchmaier. „Erst als wir 2004 die Fassade der Kulturfabrik renoviert haben, kamen die Mittelherwigsdorfer. Heute sind die Verhältnisse umgekehrt.“ Auf dem Land gilt eben noch die Bauernregel: Selbstgebatikte Zausel nimmt man genauso an wie Stutzer im Sakko. Vorausgesetzt, ihr Haus und Garten „verschandeln“ nicht den ganzen Ort.

Anpacker Lutz Sievert muss sich da keine Sorgen machen. Er bringt sein 300-jähriges ehemaliges Umgebindehaus selbst auf Vordermann. „Ich fühle mich super hier. In der Stadt käme ich auf Dauer nicht mehr klar. Zu laut. Und zu wenig Landluft. Ich würde das hier viel zu sehr vermissen.“

Das hier. Seine Familie, seine Pferde, seine Hunde, sein Pflaumenbaum; offenbar hat Lutz Sievert im strukturarmen, aber kulturreichen Zittauer Becken längst gefunden, was andere lebenslänglich vergebens suchen und nur selten an Orten wie diesem. Ein Zuhause. Seine Heimat.