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Nicht aus den Latschen kippen

In der Oberlausitz hat eine Fabrik überlebt, die einen DDR-Klassiker wie in alten Zeiten herstellt: Pantoffeln, zeitlos kariert. Ein kleines Team hält das Geschäft am Leben, obwohl das Jahr für Jahr härter wird.

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© Ronald Bonß

Von Doreen Reinhard

Am Ende der Welt riecht es nach Klebstoff. Man kann dem Geruch wie einem Wegweiser folgen, quer durch Berthelsdorf, einem 1 500-Seelen-Örtchen, in dem an diesem trüben Tag kein Mensch zu sehen und kein Geräusch zu hören ist. Die Häuser stehen geduckt in einem schmalen Tal, auf den Dächern kräuseln sich Nebelschwaden. Je weiter es die Obere Dorfstraße hinaufgeht, desto intensiver ist die Leimspur. Über Nummer 7, einem altersschwachen Umgebindehaus, hängt der Geruch wie eine Glocke. Der Mann, der die Tür öffnet, kommt mit breitem Grinsen einer Unterstellung zuvor: „Richtig, wir befinden uns am Allerwertesten der Welt“.

Schuster, bleib bei deinem Leisten – das Sprichwort beschreibt, was in der Bertelsdorfer Hausschuh- und Pantoffeln GmbH passiert. Auf dem Leisten werden die Latschen aus der Lausitz geformt.
Schuster, bleib bei deinem Leisten – das Sprichwort beschreibt, was in der Bertelsdorfer Hausschuh- und Pantoffeln GmbH passiert. Auf dem Leisten werden die Latschen aus der Lausitz geformt. © Ronald Bonß
Geschäftsführer und Pantoffelmacher: Andreas Förster stanzt Ledersohlen, er ist der einzige Mann in der Firma. Werden Aufträge knapp, zieht er mit dem Musterkoffer los.
Geschäftsführer und Pantoffelmacher: Andreas Förster stanzt Ledersohlen, er ist der einzige Mann in der Firma. Werden Aufträge knapp, zieht er mit dem Musterkoffer los. © Ronald Bonß
Carmen Fischer näht Pantoffelteile. Keine der Maschinen ist jünger als Baujahr 1975. Die meisten Näherinnen sind um die 60 und haben auch ihre Lehre in der Fabrik absolviert.
Carmen Fischer näht Pantoffelteile. Keine der Maschinen ist jünger als Baujahr 1975. Die meisten Näherinnen sind um die 60 und haben auch ihre Lehre in der Fabrik absolviert. © Ronald Bonß

Andreas Förster sagt das als Einheimischer und meint es liebevoll. Berthelsdorf, das ist tiefste Oberlausitz. Bis zur polnischen Grenze sind es nur ein paar Kilometer, auf dem Weg dahin liegen Wald, Wiese und ein paar versprengte Siedlungen. Es lebt sich langsamer am Ende der Welt, auch im Haus Nummer 7. Viele Betriebe gibt es in der Nachbarschaft nicht, einer der größten sitzt hier: Ha-Pa, die Fabrik für Hausschuhe und Pantoffeln. Eine Instanz für bodenständige Bekleidung. Ein Relikt von vorgestern, das längst gestorben wäre, wenn sich Andreas Förster und seine Belegschaft nicht um die greise Firma kümmern würden.

Die Zentrale sieht aus, als wäre die Zeitrechnung vor 40 Jahren unterbrochen worden. Schummriger Flur, knarrende Treppe, unten ein bescheidenes Büro, in dem sich Schreibkram türmt. Davor stehen Vitrinen, ebenfalls Überbleibsel von früher. Hinter beschlagenem Glas ruht ein Ostprodukt in sämtlichen Ausführungen: klein kariert und groß kariert, braun gestreift und weiß gepunktet. „Unsere Latschen“, sagt Andreas Förster, der so gemütlich daherkommt wie seine Ware. Er hat ein rundes Gesicht, heitere Züge und ein dröhnendes Lachen. Natürlich ist er auch privat ein Freund des guten, alten Pantoffels, sonst hätte er sich auf ein Berufsleben mit ihm nicht eingelassen. Oder ihn längst fallen gelassen, weil das Wirtschaften mit ihm immer schwerer wird. Diese Kleinstarbeit, für die man geschickte Hände braucht. Stanzen, schneiden, nähen, kleben, formen, dämpfen, trocknen, bis ein Schuh daraus wird.

Früher garantierte der Pantoffel gute Geschäfte. In der Lausitz hantierten unzählige Manufakturen. Allein in Berthelsdorf gab es drei, die sich Anfang der 60er-Jahre zusammenschlossen. Es war die Geburtsstunde der Fabrik, die allerdings zehn Jahre später vom Staat vereinnahmt wurde. Die Ha-Pa war nun ein VEB. Die Bilanzen hat das gestärkt, denn der Großhandel regelte den Absatz und ließ sich auf Streitereien über Geschmäcker gar nicht erst ein. Getragen wurde das, was im Schuhladen lag, und im Hausschuh-Fach machte vor allem ein Design Karriere: der Kamelhaar-Treter in Braun-gelb. Keinem Tier wurde ein Haar dafür gekrümmt, das Ost-Original war eine Symbiose aus gestreiftem Filz und Gummisohle. So ist es bis heute geblieben. Andreas Förster hat den Oldie nach wie vor im Sortiment. „Ist eben ein Klassiker, daran kommt man nicht vorbei“, wenn man auf dem Hausschuh-Markt überleben will, der längst nicht mehr so bequem ist wie im Sozialismus.

Mitarbeiter wollten ihre Jobs retten

Der Zusammenbruch des Systems hat die Lausitzer Fabrik erschüttert. Gut 60 Mitarbeiter hatten hier jedes Jahr über eine halbe Million Pantoffeln produziert. Verkauft wurden sie von der Ostsee bis zum Erzgebirge. Als die Mauer fiel, wusste keiner, wie es weitergehen soll. Auch Andreas Förster, im Kollektiv damals noch ein Neuling, blickte ratlos in die Zukunft. 1988 hatte er als Maschinenbauingenieur bei der Ha-Pa begonnen und wollte so schnell nicht wieder gehen. Zwei andere Mitarbeiter sahen das genauso. Gemeinsam entschlossen sie sich zum Neuanfang. Sie wollten die Tradition am Leben halten, aber ein anderes Ziel war überlebenswichtiger. „Wir haben ganz einfach versucht, unsere Jobs zu retten“, sagt der 50-Jährige.

Vom einstigen Trio sind zwei Geschäftsführer geblieben: Andreas Förster und Verena Neumann. Sie ist 58 Jahre alt und damals wie heute für die Buchhaltung zuständig. Beide sind ein eingespieltes Team, „auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen“, sagt sie. Auf Fachbereiche kann sich in der Ha-Pa allerdings keiner zurückziehen. Jeder muss alles machen, und so stehen auch die Chefs jede freie Minute in der Produktionshalle und kleben im Akkord Sohlen. Früher habe er sich das anders vorgestellt, erklärt der Boss mit einem Augenzwinkern. Als die Ha-Pa 1992 in die freie Marktwirtschaft startete, dachte er: „Geschäftsführer sein, das heißt bestimmt, dass ich bald mit einem dicken Auto vorfahre.“

Nichts zum reich werden

Reich ist mit der Fabrik niemand geworden. In manchem Sommer, wenn der Verkauf von Puschen naturgemäß lahmt, haben Andreas Förster und seine Geschäftspartnerin an den eigenen Gehältern gespart. „Da denkt man schon darüber nach, ob sich das Weitermachen lohnt.“ Aber die Ha-Pa gibt es immer noch. Nicht wenige haben der Firma schlechte Prognosen ausgestellt. „Zehn Jahre, dann seid ihr weg vom Fenster“, solche Sätze hat Förster oft gehört. Inzwischen behauptet sich das Geschäft seit 22 Jahren, aber die letzte Dekade war hart. Pantoffeln sind kein Selbstläufer mehr. Konkurrenz aus Osteuropa und Asien überschwemmt den Markt, die Landschaft der Einzelhändler dünnt aus, kleine Produzenten schaffen es kaum in die Sortimente großer Modeketten. „Und die feinen Schuhgeschäfte tun sich schwer mit unserem Produkt“, sagt Förster. „Unser Pantoffel ist eben, sagen wir, zeitlos.“

Man könnte auch sagen: hoffnungslos altmodisch. Das wiederum ist seine größte Tugend. Der Lausitzer Latsch wird noch wie eh und je produziert. Sogar die Maschinen, die bei der Handarbeit assistieren, sind unverwüstliche Antiquitäten; die Jüngste wurde 1975 gebaut.

Gerade mal drei Minuten braucht es, bis ein Schuh fertig ist, Trocknung nicht eingerechnet. Allerdings schaffen diesen Rekord nur Profis wie Christine, Ingrid und Carmen, drei von acht Helferinnen, die in der Fabrik regelmäßig beschäftigt sind. Vor allem in den Wintermonaten, wenn der Laden brummt. Alle wohnen in der Nachbarschaft und haben in dem Umgebindehaus vor über 40 Jahren schon ihre Ausbildung gemacht. Früher trugen sie bei der Arbeit geblümte Dederon-Schürzen, und sie würden das immer noch tun, wäre der Arbeitsschutz nicht strenger geworden. Nun müssen es robuste Kittel sein, damit der heiße Leim keine Löcher in den Stoff brennt. Der Geruch hängt beinah betäubend in ihrem Kabuff, aber die Damen merken das kaum noch. „Heute haben wir ein Tiefdruckgebiet, da drückt es auf die Schornsteine und kann schon mal streng riechen“, sagt Christine ungerührt, während sie blaukarierte Pantoffelgrundrisse säumt. So schnell, dass einem beim Zuschauen schwindelig wird.

Chef Andreas Förster lugt um die Ecke, lächelt frech und sagt so leise, dass es die Näherinnen nicht hören: „Das ist meine Puppenstube.“ Er ist in seinem Betrieb allein unter Frauen und weiß, dass er ohne sie aufgeschmissen wäre. Mit dicken Gehältern kann er nicht locken, die Belegschaft kehrt Jahr für Jahr aus anderen Gründen zurück. „Weil es bei uns in der Gegend schwer ist, überhaupt einen Job zu finden. Erst recht in unserem Alter“, sagt Christine. „Und weil es ein kleines Wunder ist, dass die Fabrik immer noch existiert.“

Andere haben längst dichtgemacht. Die Hausschuh-Konkurrenz, die geblieben ist, lässt sich an einer Hand abzählen. „In ganz Ostdeutschland gibt es noch fünf Hersteller in unserer Größenordnung. Und noch ein paar kleine Anbieter, die in geringen Stückzahlen produzieren“, sagt Förster. Auch im anderen Teil des Landes hat er versucht, Reviere abzustecken, aber mit Hausschuhen ist das so eine Sache. Obwohl seine Paare noch nicht mal einen Zehner kosten, lagen sie wie angeklebt im Regal. „Im Westen kommen unsere Kollektionen nicht an. Dort trägt man zu Hause entweder Socken oder Pantoffeln aus Leder. Und weiter unten im Süden sind Hüttenschuhe gefragt.“ Die klein karierten Ossis sind im Westen nie heimisch geworden.

Durchschnittskunde ist König

Also konzentriert sich Andreas Förster auf seinen Durchschnittskunden: den Herren aus der Region, Schuhgröße 44, reiferer Jahrgang und nur bedingt für modische Experimente zu haben. Was hat der Lausitzer nicht alles probiert: verwegene Stoffe, flotte Designs, knallrote Pantoffeln für die Damen, wild gemusterte für die Herren. Aber nein, seine Kundschaft bleibt am liebsten beim Klassiker in Oliv, Beige und Grau. „Manchmal stehen mir diese Farben bis hier“, sagt er und zieht mit der Hand eine Luftlinie unter sein Kinn. Aber eigentlich darf er über so etwas gar nicht laut klagen. Wenn der Kunde grau wünscht, dann bekommt er es in allen Nuancen. Hauptsache, das Geschäft läuft.

Und gerade läuft es hervorragend. Auf den Dezember ist wie immer Verlass. Pro Tag werden im Obergeschoss der Fabrik 500 neue Pantoffeln fertig, unten klingeln ständig Händler, die das Schuhwerk für Märkte abholen. Hin und wieder zieht Andreas Förster selbst los, packt seinen schwarzen Vertreterkoffer voller Latschen und preist sie in örtlichen Supermärkten an. Mit dabei ist auch der Kamelhaar-Pantoffel, das Aushängeschild seiner Branche. In letzter Zeit kam es immer mal vor, dass sich Jugendliche begeistert auf genau dieses Exemplar gestürzt haben, weil sie es irgendwie witzig und irgendwie retro finden. Andreas Förster ist dankbar für jeden Fan, aber so richtig weiß er noch nicht, was er von dieser trendbewussten Kundschaft halten soll. Denn egal, wie schwer das Leben mit den Pantoffeln ist: Er meint es wirklich ernst mit ihnen.