Merken

Nackt vor dem Schularzt

Die Pflichtuntersuchung bei Schülern gerät in die Kritik. Wie weit dürfen die Ärzte dabei gehen?

Teilen
Folgen
NEU!

Von Annette Binninger und Carola Lauterbach

Tausende von Kindern haben sie bereits über sich ergehen lassen. Ohne dass es bisher um die Reihenuntersuchungen in der Schule viel Aufsehen gegeben hätte. Doch wie weit darf die in Sachsen gesetzlich vorgeschriebene Gesundheitskontrolle an der Schule gehen? Bei Zweit- und Sechstklässlern sogar bis in den Genitalbereich?

Nach einem Bericht der „Freien Presse“ (Chemnitz) haben sich jetzt in Internet-Foren Eltern zu Wort gemeldet, deren Berichte Zweifel an Sinn und Ablauf der Pflichtuntersuchung wecken. So schildert eine Mutter, wie ihre Tochter weinend aus der Schule angerufen habe, nachdem ein Arzt den Jungen und Mädchen ungefragt in die Unterhose geschaut habe. Sechstklässler hätten sich splitternackt ausziehen müssen.

Tatsächlich sieht das sächsische Schulgesetz seit 1991 neben der Pflichtuntersuchung vor der Schulaufnahme und regelmäßigen Zahnkontrollen noch zwei weitere verpflichtende Reihenuntersuchungen in der 2. und 6. Klasse vor.

Rechtlich umstritten

In Paragraf26a, dem Kapitel „Schulgesundheitspflege“, ist dies detailliert geregelt. Unter anderem sollen die Amtsärzte nach schriftlicher Zustimmung der Eltern die Kinder auf Wahrnehmungsleistung, Konzentrationsfähigkeit und Ernährungszustand hin untersuchen – und auf den „physischen Entwicklungsstatus“ achten. Dazu gehöre eben auch der Genitalbereich, heißt es aus Sachsens Gesundheitsministerium, wo man die Aufregung so gar nicht versteht. Dass der Arzt dabei Hand anlege, sei jedoch nicht vorgesehen. Bei der Untersuchung des Genitalbereichs sei nur eine „Blickdiagnose“ erlaubt, kein Abtasten. Schüler können sich dieser speziellen Untersuchung ganz verweigern – folgenlos. Wenn Eltern ihr Kind jedoch gar nicht der Reihenuntersuchung aussetzen wollen, können sie dies ablehnen. Dann muss das Kind aber auf eigene Kosten zum Hausarzt und danach dem Schulleiter eine Bescheinigung darüber vorlegen.

Auf SZ-Nachfrage sehen Schulleiter keine Probleme mit dem Schularzt. Thomas Lorenz, Leiter der 128.Mittelschule in Dresden, hält es für richtig, dass die Untersuchungen verpflichtend sind. „Eltern werden bei größeren Kindern eher nachlässig bei solchen vorbeugenden Untersuchungen.“

Auf das natürliche Schamgefühl der Kinder werde Rücksicht genommen. „Die Untersuchung findet in unserem Arztzimmer statt, sie wird von einer Ärztin durchgeführt – und es hat bei uns bislang keine Probleme damit gegeben“, sagt Elke Richter, Schulleiterin des Radeberger Humboldt-Gymnasiums. Die Eltern würden langfristig auf diesen Termin hingewiesen. Ihnen werde auch mitgeteilt, dass sie dabeisein könnten.

Rechtlich hält der Leipziger Jura-Professor Bernd Rüdiger Kern dagegen die „Zwangsuntersuchung“, die es so wohl nur in Sachsen gebe, schlichtweg für „unzulässig“. „Als Angebot wäre es in Ordnung, aber nicht als Zwang mit einer erheblichen Einschränkung von Freiheitsrechten“, sagt Kern.

Schäden unwahrscheinlich

Dass durch die Genitaluntersuchung vorpubertären Kindern bleibende Schäden entstehen könnten, bezweifelt unterdessen der Dresdner Kinderpsychologe Professor Dr. Veit Roessner. „Wenn ein Kind dabei ganz negative Erfahrungen macht, sich ausgeliefert fühlt, dann kann das im Extremfall bis zu einer Traumatisierung führen.“ Aber das sei sehr unwahrscheinlich, sagt der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie.

„Doch die Frage ist schon berechtigt, ob man ein Kind zwingen muss, sich ohne Not vor einem Fremden auszuziehen, auch wenn er Arzt ist.“ Die sicherere Variante sei daher, das Kind von einem vertrauten Arzt untersuchen zu lassen.