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Mutig in die Angsthasen-Schule

Eva Lehmann ist 30 Jahre lang nicht Auto gefahren. Jetzt hat sie noch mal Fahrschule gemacht – und sitzt wieder hinterm Steuer.

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© kairospress

Susanne Sodan

Und Luft holen. „Manchmal vergesse ich wirklich zu atmen“, erzählt Eva Lehmann. Dann erinnert Dagmar Kanter sie: „Ganz entspannt. Luft holen.“ Eva fährt vorsichtig in die Ausfahrt, Blinker setzen. „Es ist frei. Los geht‘s.“ Übungsfahrt auf der Bautzener Straße in Dresden, eine letzte Übungsstunde bei der Fahrschule Dagmar. Dabei hat Eva Lehmann längst einen Führerschein. Nur, sie ist ewig nicht gefahren. Jetzt, mit 75, sitzt sie wieder am Steuer.

„Es war für mich eine Herausforderung, noch mal neu anzufangen“, sagt Eva Lehmann. „Aber die Familie hat mir gut zugeredet.“ Früher ist immer ihr Mann gefahren, ein routinierter Vielfahrer, erzählt sie. Im vergangenen Jahr starb er, unerwartet. „Ich stand plötzlich völlig auf dem Schlauch.“ Man hört Trauer in Evas Stimme. „Er hätte nie etwas dagegen gehabt, wenn ich gefahren wäre. Aber so war es eben bequemer.“ Der Alltag musste nach dem Tod des Mannes trotzdem weitergehen: Einkaufen, Arztbesuche, Behördengänge. Die nächste Einkaufsmöglichkeit ist für Eva aber nicht um die Ecke, der Arzt auch nicht. „Meine Nachbarn und meine Tochter haben mir geholfen. Aber das war keine Dauerlösung.“ Klar, vieles lasse sich zu Fuß oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen. Darum geht es der 75-Jährigen aber nicht. „Ich wollte wieder unabhängig sein.“ Also meldete sie sich zum Auffrischungskurs bei Dagmar Kanter an.

Manchmal fährt Eva Lehmann zu weit rechts. „Ich lasse mich schnell nervös machen von denen hinter mir“, erklärt sie. „Die hinter uns interessieren uns jetzt nicht“, entgegnet Dagmar Kanter ruhig. Zu weit rechts auf der Fahrspur – ein typisches Senioren-Problem ist das nicht. „Nein. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele ältere Fahrer genau wieder dieselben Fehler machen wie in jungen Jahren“, erklärt Dagmar Kanter. Bereits seit zehn Jahren bietet sie in ihrer Angsthasen-Fahrschule in der Dresdner Neustadt Auffrischungskurse an. Im Schnitt verbucht sie für den Kurs zwei bis drei Anmeldungen im Monat. Mehr Frauen als Männer. Evas Fall sei klassisch.„Frauen machen den Kurs meistens, weil sie lange nicht gefahren sind, Männer eher, um sich abzusichern, dass es noch geht.“ Die Zahl der Senioren-Anmeldungen sei seit Jahren konstant. Einen Anstieg verzeichnet sie in einem anderen Bereich: Immer öfter kommen Leute im mittleren Alter, die eine neue Arbeit haben und deshalb plötzlich fahren müssen.

Verbieten kann Dagmar Kanter das Fahren niemandem, egal wie alt, egal welche Probleme es gibt. Sie kann nur eine Empfehlung aussprechen – und üben. Eva hat sechs Stunden im Fahrschulauto und drei Stunden in ihrem eigenen Auto absolviert. Das ist neu. Das große Auto ihres Mannes hat sie weggegeben und sich eines mit Automatik-Schaltung gekauft. „Wenn ich nicht schalten muss, kann ich mich besser auf den Verkehr konzentrieren“, sagt Eva.

Unübersichtliche Stellen, das sind die Probleme für viele ältere Autofahrer, erklärt Bernhard Schlag, Professor für Verkehrspsychologie an der TU Dresden. „Es ändert sich sehr vieles im Alter: die motorischen, die sensorischen und die kognitiven Fähigkeiten.“ Es wird schwieriger, den Kopf für den Schulterblick zu wenden, bei Dämmerung oder Blendlicht zu fahren. „Das fängt sogar schon im Alter von 40 Jahren an“, erklärt Schlag. Und das Reaktionsvermögen nimmt ab. „Im normalen Straßenverkehr machen sich diese Einschränkungen überraschend wenig bemerkbar. Schwierig wird es aber in komplexen Situationen, wenn vieles aufeinandertrifft oder etwas Überraschendes passiert.“

2014 gab es sachsenweit 25 375 Unfälle mit Personenschaden. In 4 853 Fällen waren Menschen im Alter von über 60 Jahren beteiligt. Hauptverursacher waren sie in rund 2 623 Fällen. Auffällig an der Statistik ist, dass die Zahl der Unfallbeteiligung als auch die Zahl der Hauptverursacher bei den Kraftfahrern zwischen 60 und 75 nicht höher ist als bei als bei anderen Altersgruppen. 2014 waren zum Beispiel 1 745 Personen im Alter von 21 bis 25 Jahren an Unfällen mit Personenschaden beteiligt, Hauptverursacher waren sie in 985 Fällen. Die Zahlen für die 60- bis 65-Jährigen: 1 561 Unfälle, 809 Mal Haupverursachser. Aber: Ab 75 Jahren steigt die Kurve an. Das könnte man damit erklären, dass ab 75 in der Statistik nicht mehr in Fünf-Jahres-Schritten gezählt wird. Andererseits müsse man die reinen Zahlen immer im Vergleich zur Fahrleistung, also zu den gefahrenen Kilometern, betrachten, erklärt Josef Krems, Professor für Psychologie an der TU Chemnitz. Er spricht von einer Badewannenkurve. Bei besonders jungen und besonders alten Fahrern ist das Unfallrisiko deutlich höher als bei den mittleren Altersgruppen.

Beide Wissenschaftler sprechen sich dennoch gegen eine festgesetzte Fahreignungs-Prüfung für Ältere aus. „Mobilität ist ein extrem hohes Gut. Wenn man Menschen darin einschränkt, kann das die Lebenqualität stark beeinflussen“, sagt Josef Krems. Außerdem hat das Alter auch Vorteile, so Dagmar Kanter.

Weiter auf der Bautzener Straße. Aus einer Ausfahrt fährt rückwärts ein Transporter. Eva bremst leicht ab. „Genau das meine ich“, sagt Dagmar Kanter. „Ein jüngerer Fahrer wäre vielleicht einfach weitergefahren. Senioren stehen eben an der Kreuzung ein bisschen länger, aber sind oft die souveräneren Fahrer.“ Sie erkennen Gefahrensituationen besser. Das bestätigt auch Bernhard Schlag. „Ältere haben durch ihre Erfahrung eine klarere Vorstellung von dem, was passieren könnte.“ Und: Sie seien sehr geschickt darin, Schwächen zu kompensieren. „Sie fahren dann eben nicht im Dunkeln oder zu Stoßzeiten.“

So hält es auch Eva Lehmann. Im Auffrischungskurs geht es nicht mehr um Schnelligkeit, es geht um Sicherheit. „Fahranfänger müssen bei mir überall fahren können, Ältere nicht“, sagt Dagmar Kanter. „Ich frage immer: Wofür wird das Auto benötigt?“ Bei Eva Lehmann lautet die Antwort: Um zum Einkaufen zu fahren, zum Arzt, nach Radebeul zu Freunden – und zum Friedhof. Diese Strecken werden dann in der Angsthasenfahrschule auf jeden Fall geübt. „Bei der ersten Fahrstunde war ich sehr nervös.“ Kann ich das noch? Bringt das in meinem Alter noch was? Das sind die Fragen, die ihr durch den Kopf gingen. Oft seien es die Kinder, die es unterstützen, wenn die Eltern im Senioren-Alter noch mal zur Fahrschule gehen. „Wenn die Eltern nicht mehr fahren können, sind sie es, auf die dann zurückgegriffen wird“, erklärt Dagmar Kanter. „Enkel belächeln so etwas eher, weil sie sich nicht in die Situation hineinversetzen können.“ Heute gehen Eva Lehmann beim Fahren eher die Sprüche ihrer Fahrlehrerin durch den Kopf. Zum Beispiel, wenn neben ihr eine Straßenbahn fährt: Ganz entspannt. Hier passt ein Lkw durch. „Ich laufe trotzdem lieber noch ein Stück, oder fahre eine Kurve mehr, wenn es dadurch entspannter wird“, erzählt Eva. Und bei Schnee lässt sie das Auto stehen.

Theoriestunden hat sie nicht noch einmal genommen. „Es kommt immer darauf an, wo die Schwierigkeiten liegen“, sagt Dagmar Kanter. Eva Lehmann war mit ihrem Mann immer mitgefahren, sie kennt die Regeln. Andere haben jahrelang kein Auto von innen gesehen, dann stehen technische Neuerungen auf dem Lehrplan. Es kommt auch vor, dass die Fahrlehrerin tatsächlich vom Fahren abrät. „Wenn es nur noch Stress ist, dann sollte man es lassen.“ Aufhören mit dem Fahren sollte man auch bei extremen Sehstörungen, rät Bernhard Schlag. „Das ist allerdings oft ein schleichender Prozess, der nicht sofort bemerkt wird.“ Und auch bei dementiellen Erkrankungen sollte man das Auto besser stehen lassen. „Zum Fahren ist eine selbstkritische Haltung nötig. Wenn die nachlässt und man sich selber nicht mehr einschätzen kann, sollte man aufhören.“

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