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Mit Tattoos gegen Narben

Eine Leipziger Tätowiererin will Gewaltopfern helfen – indem sie Wunden kostenlos mit Tattoos verdeckt. Ein Studiobesuch.

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Von Violetta Kuhn

Leipzig. Auf ihrem Unterarm reihen sich feine weiße Linien aneinander. Es sind Narben, die sich Lisa Renner über Jahre selbst zugefügt hat. Doch heute sollen sie verschwinden – unter bunten Blüten und unter Schriftzügen, die ihr viel bedeuten.

Die Frau hat sich für Orchideenblüten entschieden. Das waren die Lieblingsblumen ihrer verstorbenen Großmutter.
Die Frau hat sich für Orchideenblüten entschieden. Das waren die Lieblingsblumen ihrer verstorbenen Großmutter. © dpa

Renner lässt sich tätowieren. Um Abschied zu nehmen von geliebten Menschen. Und auch, um in Zukunft vielleicht von dem Ritzen loszukommen. „Mir ist so viel Schlechtes widerfahren“, sagt sie. „Warum soll mir nicht auch mal was Gutes passieren?“

Lisa Renner heißt eigentlich anders. Sie will ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. 20 Jahre ist sie alt, doch in ihrem T-Shirt mit Comic-Motiv wirkt sie jünger, hier auf der Liege eines Tattoo-Studios im Leipziger Westen. Sie knautscht zwei kleine Kuscheltiere mit Kulleraugen. Die habe sie immer dabei, erzählt Renner, für Momente, in denen ihre Ängste überhandnehmen.

Dieses Gute, was ihr heute passieren soll, das ist ein Angebot von Peggy Miksch, der Inhaberin des Leipziger Tattoo-Studios „Stichgebiet“. Die 24-Jährige bietet jungen Frauen, die Gewalt erfahren haben, kostenlose Tattoos an. „Der Arm sieht nicht schön aus, muss ich sagen“, bemerkt Lisa Renner. „Der wird schön“, antwortet Peggy Miksch, regenbogenbunte Haare, Piercings in Lippen und Nase. Dann surrt das Gerät los.

Renner bekommt auf den rechten Unterarm Orchideen-Blüten, um die sich zwei Sätze ranken: „Vorbei sind Qual und Schmerz, schlaf wohl, du Mutterherz“ und „Wenn die Kraft zu Ende geht, ist Erlösung eine Gnade“. Die Sprüche sind Renners Großeltern gewidmet.

„Ich will über diesen Weg Abschied nehmen“, sagt die junge Frau in einer Zigarettenpause, draußen vor dem Studio. Der Großvater ist schon länger tot, die Großmutter, Renners wichtigste Bezugsperson, starb im Frühjahr. Orchideen waren ihre Lieblingsblumen. In ihrem Leben seien ihr alle Arten von Gewalt angetan worden, erzählt die 20-Jährige, von ihrer Mutter, von ihrem Ex-Freund. Zuletzt lebte sie in einem Frauenhaus.

Für Tätowiererin Peggy Miksch ist die Arbeit mit Lisa Renner etwas Neues. Ihr Projekt „Tattoos gegen Gewalt“ steht noch ganz am Anfang: Renner ist erst die Zweite, die kostenlos tätowiert wird. Aber sie hat vor, das Angebot auszuweiten und sich Vereine zu suchen, die ihr Betroffene vermitteln. Zwei bis drei Frauen pro Monat, das ist ihr Ziel.

Warum sie das macht? „Weil es mir wichtig ist, mich sozial zu engagieren“, sagt sie. Sie könne nicht genug Geld spenden, um wirklich etwas zu verändern. Aber tätowieren könne sie. Statt auf Narben schauten die Frauen nach einer Session bei ihr auf etwas Schönes. „Das soll Mut geben und neue Kraft“, sagt Miksch, die selbst Depressionen hinter sich hat.

Die Leipzigerin ist nicht die Einzige auf der Welt, die Gewaltopfer kostenlos tätowiert. Im brasilianischen Curitiba etwa verziert Flavia Carvalho Narben, und auch in der russischen Stadt Ufa will eine Tätowierern Opfern von häuslicher Gewalt auf diese Weise helfen.

Aber geht Tätowieren auf Narben überhaupt? Aus hautärztlicher Sicht spreche nichts dagegen, sagt Christian Laurin, Dermatologe in Karlsruhe. Es bestünden die gleichen Risiken wie auf unversehrter Haut, etwa eine allergische Reaktion auf die Tätowierfarbe, sagt er.

Trotzdem kann nicht jede Narbe mit einem Tattoo überdeckt werden. Mindestens ein Jahr lang sollten größere Verletzungen zurückliegen, sagt Mia Silke Knopp, zweite Vorsitzende des Verbands Deutsche Organisierte Tätowierer. Von zehn Narben könne man zwei nicht tätowieren. Die seien zu wulstig oder hätten eine Struktur, die das gewünschte Motiv nicht zulasse.

Wenn es aber klappe, leuchteten die Farben auf Narben oft mehr, weil das Unterhautfett fehle und man direkter auf das Tattoo schaue, sagt die Inhaberin eines Studios in Trier in Rheinland-Pfalz. Allerdings könnten Linien mit der Zeit etwas breiter werden. „Es ist nicht die gleiche Qualität wie auf unversehrter Haut“, sagt Knopp. Kunden, die Narben überdecken wollten, seien keine Seltenheit, ob Borderline-Patienten, Gewaltopfer oder Frauen, die nach einer Krebserkrankung eine oder beide Brüste verloren hätten.

Eine Therapie könnten Tattoos aber sicher nicht ersetzen, betont der Psychologe Norbert Kröger, der in Berlin Gewaltopfer mit Traumafolgestörungen behandelt. „Es kann sein, dass das der Selbstsicherheit dient, aber letztlich ist es eine symptombezogene Maßnahme.“ Tattoos könnten allenfalls auf einer oberflächlichen Ebene helfen: Wer physische Gewalt erlebt habe, glaube vielleicht, dass andere ihre Narben anstarrten. Mit einer Tätowierung seien diese weniger sichtbar.

Lisa Renner jedenfalls scheint ein paar Wochen nach dem Stechen froh zu sein über ihr neues Orchideen-Tattoo. „Das überdeckt die Narben. Ich guck ganz oft drauf, es erinnert mich an die Oma“, sagt sie am Telefon. „Es gibt Tage, da tut es mehr weh, auf den Arm zu gucken, als an anderen Tagen. Aber ich glaube, das ist ganz normal.“ Geritzt habe sie sich seit dem Besuch in Peggy Mikschs Studio nicht mehr. (dpa)