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Mit Köfer, Krug und Krümel

Das Fernsehen der DDR ist bei Peter Flieher in den besten Händen. Auch für den Silvestertag hat er einige Tipps zum Gucken.

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© Ronald Bonß

Von Karin Großmann (Text) und Ronald Bonss (Fotos)

Herr Flieher ist ein kleiner Mann mit einem großen Schatz. Wie kostbar der Schatz ist, sieht man nicht auf den ersten Blick. Brüchige Bindfäden halten die Zeitschriftenstapel zusammen. Jederzeit könnten junge Pioniere zur Sero-Sammlung vorbeikommen. Sero wie Sekundärrohstoff. Das Wort könnte in einer der Zeitschriften aus den Sechzigerjahren stehen. Da war Herr Flieher ein Teenager, das Haar war voller und der Schnauzbart noch nicht gewachsen.

Prominente Künstler wie Helga Piur, Alfred Struwe, Carmen Nebel und Günther Fischer (v.l.) werben auf den Titelseiten der Zeitschrift FF dabei für das Fernsehprogramm der DDR. Die Zeitschrift und ihre Vorgänger gab es von 1946 bis 1996, sie kostete anfang
Prominente Künstler wie Helga Piur, Alfred Struwe, Carmen Nebel und Günther Fischer (v.l.) werben auf den Titelseiten der Zeitschrift FF dabei für das Fernsehprogramm der DDR. Die Zeitschrift und ihre Vorgänger gab es von 1946 bis 1996, sie kostete anfang © Ronald Bonß

Doch diesen aufmerksamen, prüfenden, dunklen Blick, den hatte er damals schon. Er sammelte Streichholzschachteln, Briefmarken und DDR-Schauspieler. Die Schauspieler sind ihm geblieben, und auch wenn die alten Karteikarten den letzten Umzug nicht überstanden – er hat es damit zu einer Perfektion gebracht, die deutschlandweit einmalig ist. Wer etwas wissen will über Fernsehfilme, Fernsehspiele, Theaterübertragungen und Serien in der DDR, der landet früher oder später immer bei Peter Flieher in Adorf, einem Ortsteil von Neukirchen bei Chemnitz.

Kater Felix schnurrt durch das Reihenhaus, mal will er rein und mal will er raus. Peter Flieher seufzt, denn wenn er erst in seinem Büro sitzt, lässt er sich ungern stören. Täglich arbeitet er dort drei Stunden und mehr. Er öffnet dem Kater die Balkontür und steigt dann die schmale Wendeltreppe hinauf. Im Bücherschrank stehen Lexika und andere Nachschlagewerke, darunter wissenschaftliche Untersuchungen zum DDR-Fernsehen. In einem zweiten Schrank stapeln sich Rundfunk- und Fernsehzeitschriften.

Sie heißen Unser Rundfunk und zeigen auf braun getöntem Papier zum Beispiel die Handpuppen Flax und Krümel auf dem Titel mit dem Schlappohrhund Struppi. Wie hieß gleich der Schauspieler? Richtig, Heinz Fülfe, im Zweitberuf Bauchredner und im Fernsehen unterwegs als Schnellzeichner Taddeus Punkt, der mit dem Kohlestift Geschichten erzählte. Er gab auch einer aufgeblasenen, besserwisserischen Elster namens Frau Elster die Stimme. Die Anfänge seiner Kunst liegen in Pirna und Hohnstein. Nichts, was Peter Flieher nicht wüsste.

In anderen Schrankfächern stapeln sich Jahrgang für Jahrgang die Programmzeitschriften FF dabei. Zu sehen sind die tschechischen Marionetten Spejbl und Hurvínek, glotzäugig näselnd, aber lieb. Daneben Carmen Nebel als Jungspund, auch lieb. Ein anderes Titelbild kündigt mit Feuerwerk die Silvesterfeier im Ersten Programm an, Feuerwerk zu Silvester ist mal eine originelle Idee. Was das andere Programm zeigte, steht weiter hinten. Es war nicht alles alternativlos.

Für Peter Flieher ist die Sammlung der Zeitschriften so was wie sein Basislager. Er hat sie alle, weit über Tausend Exemplare, von 1952 an. Damals wurde zum ersten Mal ein tägliches Programm aus Berlin-Adlershof ausgestrahlt mit viel Testbild und einigen Nachrichten, gesprochen von Herbert Köfer. Offiziell startete das DDR-Fernsehen vor sechzig Jahren, am 3. Januar 1956. Vor fünfundzwanzig Jahren begann dann der Abschied, bis das Programm am 31. Dezember 1991 endgültig vom Sender ging. Und wieder war Herbert Köfer dabei, der Schauspieler machte als Letzter das Licht aus. Was dazwischenliegt, nennt die Forschung ein abgeschlossenes Sammelgebiet.

Wie jeden Sammler treibt Peter Flieher die Manie der Vollständigkeit um – auch wenn Vollständigkeit ein schrecklicher Zustand wäre, denn das würde ein Ende des Sammelns bedeuten. Bloße Traditionspflege. Staubwischen. Davon ist Flieher weit entfernt. Er ist 66 und macht Pläne für die nächsten zehn Jahre. „Ich hab schon als Jugendlicher gedacht, dass ich das Hobby ausbauen könnte, wenn ich mal Rentner bin. Man sollte sich vorher Gedanken machen, wenn man aus einer anspruchsvollen Arbeit kommt, und plötzlich ist Schluss. Ich gucke jeden Tag gern rein in mein Archiv.“

Flieher war zuletzt bei dem schillernden Firmenverbund angestellt, den die Zwillingsbrüder Leonhardt in der Nachwendezeit zusammenbauten mit Autohäusern, Industriefirmen und Hotel. Das Engagement für den FC Erzgebirge Aue machte die Leonhardts bekannt. Doch mit Fußball hat es Peter Flieher nicht so. Er ging mit 18 raus aus dem Chemnitzer Elternhaus, studierte in Merseburg Betriebswirtschaft, machte seinen Doktor und arbeitete viele Jahre als Ökonom im wissenschaftlich-technischen Zentrum der Wismut. Das klingt nicht nach Spiel mit Zufälligkeiten, das klingt nach rechten Winkeln und Akribie. Nach Karteikarten eben.

Peter Flieher erinnert sich, wie er mit dem Füllhalter die Namen von Schauspielern aufschrieb und welche Rolle sie in welchem Film spielten. Wenn jetzt Erwin Geschonneck mit unheimlichem Grinsen nachts in die Stube guckt und die Maskenbildnerin alles gegeben hat mit Glasauge, Stirnnarbe, Stummelzähnen und Fusselbart, dann hat Flieher die Fakten zum ersten Farbfilm der Defa von 1950 parat. „Das kalte Herz“ mit Geschonneck als erzbösem Holländer-Michel wird regelmäßig gezeigt.

Ohne die Sendungen aus der DDR wäre der Mitteldeutsche Rundfunk arm dran. Auch Arte, der Kinderkanal, der Hessische Rundfunk und der RBB holen sich gelegentlich ein Stück aus der Altkleiderkammer. Besonders der „Polizeiruf 110“ mit dem standhaft-unveränderbaren Peter Borgelt als Oberleutnant Fuchs wird gern genommen. Allein im Dezember zählte Peter Flieher auf allen Kanälen 115 Wiederholungen von DDR-Sendungen. Fernsehchef Heinz Adameck würde kichern, wenn er das wüsste.

„Es muss jeder selbst entscheiden, ob er das guckt“, sagt Flieher, „als gelernter DDR-Bürger weiß man, wie man einzelne Sendungen einzuordnen hat.“ Er liebt bei Weitem nicht alle, im Gegenteil. „Das Fernsehen war ein von der SED bestimmtes Medium, das merkt man natürlich, selbst Professor Flimmrich im Kinderfernsehen agitierte im Sinn der SED. Aber die Filme, die er zeigte, hatten oft eine hohe künstlerische Qualität.“ Flieher erzählt von Literaturverfilmungen, die er mochte. Er sagt: „,Wege übers Land‘, das war erste Sahne.“

In dem Fünfteiler vom schweren Anfang spielte Manfred Krug eine Hauptrolle. Er ist gut im Geschäft, allein an diesem Silvestertag zweimal, 8.30 Uhr beim MDR im siebenten Fall der Stülpner-Legende und 15.30 Uhr als König Drosselbart. Außerdem laufen „Hans Röckle und der Teufel“ mit Rolf Hoppe, das Lustspiel „Tolle Tage“ mit Herricht und Preil, eine Folge aus der Serie „Ferienheim Bergkristall“ und etliche Sketche mit Helga Hahnemann – neun Wiederholungen aus dem DDR-Fernsehen an einem Tag.

Und jeden Tag aktualisiert Peter Flieher den Kalender auf seiner Internetseite. Neben der Sendezeit notiert er das Datum der Erstausstrahlung und eine kurze Information zu Film oder Serie. Anders als viele Programmzeitschriften zeigt er rund um die Uhr alles an. Denn es kann ja sein, dass ein 3sat-Zuschauer von Schlaflosigkeit geplagt wird und morgens halb fünf Lust hat auf einen alten Schinken. Der „Polizeiruf“, der zu dieser Zeit am 3. Januar läuft, ist immerhin 44 Jahre alt. Eine Brandstiftung soll eine andere Straftat verdecken. Dann fängt das neue Jahr ja gut an. Bis Mitte Januar hat Flieher den Kalender schon ausgefüllt anhand der Fernsehprogramme im Internet und seiner Zeitschriftensammlung.

Doch diese Übersicht ist längst nicht alles. Auf seiner Internetseite gibt Flieher ausführlich Auskunft über Fernsehfilme und Fernsehspiele, über den Inhalt und die Mitwirkenden – 4 276 Informationsblätter hat er geschrieben. Wie jeder Sammler sucht er die Lücken in seinem Materiallager zu füllen. Die Fehlstellen in den Fünfzigerjahren schmerzen ihn besonders. Dabei weiß Peter Flieher, dass der einstige Dramaturg Hans Müncheberg Auskunft geben könnte, der das frühe Fernseharchiv bei sich beherbergt. Aber Müncheberg schweigt, sagt Flieher. Sammler sind Konkurrenten.

Doch manchmal haben sie Glück. Lutz Jahoda zum Beispiel antwortete, als Peter Flieher ihn nach dem Fernsehfilm „Der Doppelsänger“ von 1960 fragte. Jahoda erklärte, wie die Doppelrolle gedreht wurde und warum der Film vermutlich aus der Öffentlichkeit verschwand: Eines seiner Lieder swingte allzu amerikanisch. Den Brief durfte Flieher auf seiner Internetseite veröffentlichen. „Das Fernsehen der DDR kann man sehen, wie man will“, sagt er, „aber es ist ein Teil der Kulturgeschichte und also der deutschen Geschichte.“

Die Seite des Sammlers wird jedes Jahr rund 320 000-mal angeklickt. Sie läuft ohne Werbung. Sie bringt nichts ein. Das war die Verabredung mit dem Deutschen Rundfunkarchiv, sagt Flieher. Das Archiv half ihm 2006 beim Aufbau. Jetzt hilft er anderen. Post kommt aus Holland, Schweden, Russland, Österreich. Schauspieler fragen nach Streifen, in denen sie vor Urzeiten mitgespielt haben. Enkel forschen ihren Großvätern nach. Ausstellungen bitten um die Filmografie eines Stars. Manchmal beschreiben Zuschauer Szenen aus einem Film, dessen Titel sie leider vergessen haben. Sie wissen schon, der mit den kleinen weißen Hunden und den Autos, die so schnell um die Kurve rasen. „Man kann nicht alles im Kopf haben“, sagt Peter Flieher bedauernd.

Er blättert den nächsten Jahrgang einer Programmzeitschrift auf. Hier fehlt die Angabe zur Regie, dort zur Erstausstrahlung. Doch seine Sammlung soll Zuwachs bekommen durch alle ausländischen Filme, die je im Fernsehen der DDR liefen. Flieher rechnet mit ungefähr 6 000 neuen Einträgen. „Das hält den Kopf fit.“ Manchmal hört er bei der Arbeit am Computer Musik, lieber die Beatles als die Stones. Dann kann er schon mal die Zeit vergessen.

Spätestens abends halb zehn setzt er sich zu seiner Frau in die Stube, nimmt den Rest vom Film mit, den sie gerade guckt, und wartet auf die Nachrichten. Richtig Filme schaut Peter Flieher auch. Aber selten. Ihm genügt, was er über sie weiß.

www.fernsehenderddr.de