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Mein Kind oder dein Kind?

Eine Mutter zieht mit ihrer Tochter in die Schweiz. Ohne Erlaubnis des Vaters. Ein Gericht entscheidet an diesem Montag über die Rückführung des Kindes.

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© plainpicture/miguel sobreira

Von Juliane Richter

Dresden. Thomas Sieberts* Vorstellung vom Vatersein war traditionell: Eine gefestigte Partnerschaft, Nachwuchs aus Liebe. Dann lernte er eine Frau kennen, einige Jahre älter als er, attraktiv, lebensfroh und schon bald von ihm schwanger. Heute, dreieinhalb Jahre später, hat sich sein Blick auf das Vatersein verändert. Die schwierigste Aufgabe für den 37-jährigen Dresdner ist, überhaupt in die Vaterrolle schlüpfen zu dürfen. „Ich will einfach nur mein Kind sehen“, sagt er.

Doch so einfach ist es nicht. Denn seine Ex-Freundin hat mit der gemeinsamen, zweijährigen Tochter Marie* Anfang August Dresden und Deutschland verlassen. Ohne ihn darüber zu informieren oder um Erlaubnis zu fragen, behauptet er. Beide teilen sich jedoch das Sorgerecht. Im Amtsdeutsch hieße das Kindesentziehung – die Entführung durch einen Elternteil.

Für Siebert, schlank, sportlich, mit jugendlichem Lächeln, bedeutet es ein Auf und Ab zwischen Verzweiflung und Zuversicht. Seit fast vier Monaten hat er keinerlei Kontakt zu seiner Tochter. Er weiß nur, dass sie mit ihrer Mutter mittlerweile in der Schweiz lebt. Die ist selbst gebürtige Schweizerin, hat aber mehr als zehn Jahre in Dresden verbracht. Weil sich der Gesundheitszustand ihres Vaters angeblich rapide verschlechtert haben soll, ist sie so plötzlich in ihre Heimat gereist.

Thomas Siebert sieht noch einen anderen Zusammenhang. Rund eine Woche vor der Abreise fand eine Verhandlung am Dresdner Familiengericht statt – eine von vielen. Dort sollte darüber entschieden werden, ob Siebert seine Tochter künftig öfter sehen darf als zweimal die Woche für maximal zweieinhalb Stunden. Das Gericht gibt ihm Recht. Noch im August soll Marie das erste Mal bei ihrem Vater übernachten, ab September sind dreitägige Aufenthalte geplant. Stattfinden wird keiner.

Siebert blickt wehmütig auf Maries Spielecke in seinem Wohnzimmer im Dresdner Osten. Auf dem kleinen weißen Ikea-Schreibtisch liegt noch ihr Malblock. Sorgfältig sind die Spielsachen in Kisten unter dem Tisch verstaut, daneben stehen ihre Hausschuhe. Über der Spielecke hängen zwei Dutzend Fotos von Marie und zeigen ein strahlendes Mädchen mit dunkelblonden, weichen Locken.

Nur wenige Dresdner durchleben Ähnliches. Die Polizei hat 2015 und 2016 jeweils 30 Fälle von Kindesentzug verzeichnet. Davon sind allerdings nur zwei bis drei Fälle so schwerwiegend, dass sie von der Staatsanwaltschaft verfolgt werden. Denn laut Polizei kommt es öfter vor, dass sich ein Elternteil gar nicht mit dem Kind ins Ausland absetzt. Der andere Elternteil will durch die Anzeige vielmehr seine Position im Scheidungsverfahren verbessern. Denn die meisten Fälle eint, dass ihnen ein langwieriger Trennungsstreit vorausgeht.

Wer mit seinem Kind tatsächlich unerlaubt ins Ausland flieht, macht sich laut Paragraf 235 des Strafgesetzbuches strafbar. Tätern droht eine Geldstrafe oder gar Freiheitsentzug bis zu fünf Jahren. Staatsanwalt Lorenz Haase meint dennoch: „Wie strafwürdig ist es, wenn ein Ausländer mit seinem Kind im Ausland lebt?“ Wer traut sich also, eine Mutter einzusperren, die sich liebevoll um ihr Kind kümmert?

Thomas Siebert hat bereits wenige Tage nach der Abreise seiner Ex-Freundin den möglichen Kindesentzug bei der Polizei angezeigt. Das Verfahren auf diesem strafrechtlichen Weg ist jedoch langwierig. Im Extremfall, insbesondere wenn das Verschwinden des Kindes droht, kann nach dem Entführer mit einem internationalen Haftbefehl gefahndet werden. Nach seiner Ex-Freundin hat die Polizei nicht gefahndet, „da bekannt war, dass sich das Kind [...] bei der Mutter aufhielt“, so die Polizei. Unabhängig davon ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet zu ermitteln, empfiehlt aber parallel den zivilrechtlichen Weg.

Den ist Thomas Siebert ebenfalls gegangen – in der Hoffnung auf eine schnellere Lösung. So hat er Mitte August einen Rückführungsantrag für seine Tochter beim zuständigen Amt für Justiz in Berlin gestellt. Dieses betreut bundesweit jene Fälle, die unter das Haager Kinderentführungsübereinkommen (HKÜ) fallen. Deutschland kooperiert in dessen Rahmen mit 84 Mitgliedsstaaten, darunter auch die Schweiz. Das HKÜ sieht das Kindeswohl durch den Entzug gefährdet und regelt, dass die Kinder schnellstmöglich wieder in ihr Herkunftsland zurückgebracht werden.

Motive für Kindesentzug gibt es verschiedene. Professor Ansgar Marx, Spezialist für Familienrecht, hat beim Internationalen Sozialdienst mehrere Jahre derart grenzüberschreitende Fälle betreut. Seinen Untersuchungen zufolge fühlt sich der ausländische Partner oft fremd, isoliert, vom Partner abhängig oder als Ausländer in einer rechtlich schwächeren Position. Oder die Entführung gilt als einziger Zugang zum Kind, wenn der entführende Elternteil mit einem abgeschlossenen Sorgerechtsverfahren nicht zufrieden ist. Dieses Motiv könnte beim Streit um Marie eine Rolle spielen. „Die entführenden Eltern sind aber keine bösen Menschen. Sie wollen mit ihrem Kind zusammen sein und sehen keinen anderen Ausweg“, sagt Marx.

Vergangenes Jahr wurden beim Amt für Justiz in Berlin 190 Rückführungsverfahren nach Deutschland eingeleitet. Am häufigsten wurden Kinder nach Polen, in die Türkei, nach Rumänien und in die USA entführt. Ein Blick auf alle weltweiten HKÜ-Verfahren zeigt, dass in etwa 75 Prozent der Fälle die Mütter mit den Kindern verschwinden. Über deren Rückführung entscheidet am Ende ein Gericht in jenem Land, in dem das entführte Kind nun lebt.

Für Thomas Siebert ist an diesem Montag der Tag der Entscheidung gekommen. Er hofft, Marie in wenigen Stunden wieder in die Arme schließen und vielleicht sogar mit nach Dresden nehmen zu können. Dafür hat er ihren Kindersitz, Spielsachen und Kuscheltiere ins Auto geladen und ist nach Frauenfeld, 30 Kilometer südwestlich von Konstanz am Bodensee, gefahren. Hier entscheidet das zuständige Obergericht im Rahmen des HKÜ-Verfahrens ob und wie Marie nach Dresden zurückkehrt.

So kann das Gericht sie theoretisch direkt an Thomas Siebert übergeben. Oder aber es beschließt, dass Marie gemeinsam mit ihrer Mutter zurückkehren muss. Vermutlich würde beiden dann noch etwas Zeit eingeräumt, um den Umzug zu organisieren. Weigert sich die Mutter, kann sie im Extremfall verhaftet und ausgewiesen werden. Dass Marie allein nach Dresden zurückkehrt, ist unwahrscheinlich, weil die Mutter ihre Hauptbezugsperson ist.

Die Eltern haben nie zusammengelebt und sich bereits kurz nach der Geburt getrennt. Marie blieb bei der Mutter. Über Thomas Siebert hat sie Bekannten gegenüber oft nur vom „Erzeuger“ gesprochen. Trotzdem kämpft Siebert unnachgiebig um Zeit mit seiner Tochter. Seine Ex-Freundin habe diese nur verhindern wollen, sagt er. Ausgefallene Umgänge hat er angezeigt. Das Dresdner Familiengericht hat der Mutter daraufhin mehr als 3 000 Euro Ordnungsgeld auferlegt. Siebert beteuert, zuvor über Familienberatungsstellen und Mediationen eine gütliche Einigung mit ihr versucht zu haben. Dass er dazu jederzeit bereit war, bestätigt ihm das Jugendamt. Die Mutter sei es hingegen nicht gewesen, schreibt das Amt. „Ich führe hier aber keinen Kampf. Das ist das falsche Wort. Es ist der einzige Weg, um mein Kind zu sehen“, sagt er.

Auch in Bezug auf Unterhaltszahlungen war Siebert von Beginn an kooperativ. Das bestätigt das Jugendamt auf SZ-Anfrage. Demnach sprach er dort bereits am 16. Juni 2015 vor und wünschte eine Unterhaltsberechnung. Kein typisches Verhalten – normalerweise lässt sich der Elternteil beraten, der Unterhalt ausgezahlt haben möchte. Über die Zahlung einigten sich die beiden. Alle anderen Fragen mussten über Anwälte oder vor Gericht geklärt werden. Noch immer laufen Verfahren zum Thema elterliche Sorge und Umgang.

Mit einer solchen Entwicklung hat Thomas Siebert niemals gerechnet. „Sie war anfangs total locker und entspannt. Einfach unkompliziert“, erinnert er sich an seine Ex-Freundin. Auch andere Bekannte beschreiben sie übereinstimmend als aufgeschlossen und sympathisch. „Eine Frau, mit der man Pferde stehlen geht“, sagt einer von ihnen. „Sie ist aber auch durch und durch Sportlerin. Und die wollen immer gewinnen“, meint Siebert.

Seine Ex-Freundin war als Leistungssportlerin national und international erfolgreich. Nach ihrer Karriere hat sie im Sport- und Gesundheitsbereich gearbeitet und sich dort stetig weiterqualifiziert. Kollegen und Bekannte bezeichnen sie als sehr zielstrebig und ambitioniert. Fotos aus einem Trainingslager zeigen eine extrem durchtrainierte Frau.

Mit ihrer Abreise aus Dresden hinterlässt sie nicht nur einen großen Kundenstamm, sondern auch eine ältere Tochter aus einer anderen Beziehung, die nun hier beim Vater lebt. Warum sie diese Tochter zurückgelassen hat und wie es der bald dreijährigen Marie geht, will sie auf Anfrage der SZ nicht beantworten. Auch sonst möchte sie sich nicht zum Streit mit Siebert äußern. Sie verweist auf das laufende Verfahren und darauf, „dass es eine private und äußerst heikle Angelegenheit ist. Ich kann auch zum Wohle meiner Kinder keine Aussage treffen.“

Bekannte beschreiben sie als sehr liebevolle und fürsorgliche Mutter. Siebert glaubt, dass darin auch der Knackpunkt für ihre Ausreise liegt. Womöglich sei die Liebe zu Marie so groß, dass sie die Tochter auf gar keinen Fall mit dem Vater teilen will. Nachbarn und Bekannte äußern, dass sie einerseits schon seit Jahren in die Schweiz zurückwollte und ihr andererseits der Gerichtsstreit heftig zugesetzt habe. Sie sei nicht fähig gewesen, noch ein weiteres Wort mit Siebert zu reden. Die Übergaben der Tochter liefen deshalb meist knapp, teilweise auch ruppig ab. Beiderseits.

Bleibt die Frage, welche Auswirkungen das alles auf das Kind haben könnte. Professor Veit Rößner, Psychologe und Klinikleiter am Dresdner Uniklinikum, sieht durch eine Entführung die psychische Gesundheit der Kinder betroffen – und darin sogar eine seelische Form der Kindswohlgefährdung. Schon Kinder von Alleinerziehenden hätten ein doppelt so hohes Risiko für psychische Auffälligkeiten, wie ADHS, Störungen im Sozialverhalten, andauerndes Schweigen. Bei einer Kindesentziehung könne sich das noch stärker ausprägen. Wichtig sei auch, dass so junge Kinder „maximal beeinflussbar“ sind. Durch die Trennung vom Vater könne eine Bindungsstörung entstehen. „Oft brauchen die Gerichte sehr lange bis Gutachter gehört und Beschlüsse gefasst werden. Monate vergehen. Hier muss in Deutschland etwas passieren, damit beide Elternteile ihr Recht bekommen“, sagt er.

Wenn Marie nach Dresden zurückkehrt, werden die noch offenen Verfahren am Familiengericht vermutlich fortgesetzt. Thomas Siebert möchte dann auch das alleinige Sorgerecht beantragen – um endlich Ruhe zu haben. Allerdings nicht, um seiner Ex-Freundin den Umgang zu verwehren. „Ein Kind braucht Mutter und Vater“, sagt er. Beide werden sich einigen müssen. Denn durch Marie sind sie für immer verbunden.

* Der Name von Vater und Kind wurde geändert.