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Licht am Ende des Tunnels

Familie Sido aus Syrien ist jetzt zwei Jahre in Dresden. Endlich geht es vorwärts mit der Integration.

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© kairospress

Von Olaf Kittel

Wenn Flüchtlinge Zeugnisse bekommen, geht‘s genauso zu wie in der Schule. Alle sind ein bisschen aufgeregt, der Lehrer verteilt die Zertifikate mal mit aufmunternden, mal mit mahnenden Worten. Die einen strahlen anschließend, die anderen schieben Frust. Rozan Sido liegt mit seiner Gefühlslage dazwischen. Michael Rollberg, der Leiter der „Sprachwerkstatt“, einem privaten Bildungsinstitut, das Sprach- und Integrationskurse für Flüchtlinge anbietet, hatte Rozan Sido gerade sein Zeugnis mit den Worten überreicht: „Leider nur A2. Sie sprechen schon gut – das ist B1. Aber das Hören, Lesen und Schreiben müssen Sie mehr üben.“ Damit liegt er im Schnitt. Von den elf Teilnehmern des einjährigen Alphabetisierungskurses erreichten zwei die angestrebte B1, neun brachten wie Rozan A2 zustande, zwei schafften auch das nicht.

Roshan und Rozan Sido mit ihren Kindern Kamal und Reva im Herbst 2017 ...
Roshan und Rozan Sido mit ihren Kindern Kamal und Reva im Herbst 2017 ... © kairospress
... und Anfang April 2016, als der erste von bisher 17 Artikeln über die kurdische Familie aus Aleppo in der Sächsischen Zeitung erschien.
... und Anfang April 2016, als der erste von bisher 17 Artikeln über die kurdische Familie aus Aleppo in der Sächsischen Zeitung erschien. © kairospress

Den Rest des Tages hatte Rozan Sido zu tun, sein Zeugnis zu verdauen. Zunächst verschickte er weinende Smileys in alle Welt. Er musste dann an Rollbergs Gesamteinschätzung erinnert werden. „Die Teilnehmer haben alle eine große Leistung vollbracht. Innerhalb eines Jahres die lateinische Schrift und eine sehr fremde Sprache in den Grundzügen zu lernen, ist stark. Sie müssen jetzt aber weiter üben, üben, üben.“ Schon am Abend überlegte Rozan Sido, zum Jobcenter zu gehen, um einen Aufbaulehrgang zu beantragen. Er, der 30-jährige Praktiker, der so froh war, dass die Schule endlich vorbei ist.

Auch wenn er etwas unter seinen eigenen Erwartungen blieb, hat er nun ein wichtiges Etappenziel erreicht: Er ist bereit für den Arbeitsmarkt. Exakt zwei Jahre, nachdem er mit seiner damals schwangeren Ehefrau Roshan und seinem Sohn Kamal aus Syrien kommend in Dresden eingetroffen war. Jetzt hofft er, dass seine Berufserfahrung als Elektriker ihm hier weiterhilft. Eine Ausbildung hat er nicht, so wie daheim üblich. Tja, was kann er wirklich? Hilft ihm seine Erfahrung in Deutschland? Wie bekommt man das raus?

IHK-Willkommenslotsin Marion Reich hatte eine blendende Idee. Sie schickte Rozan Sido für eine Woche zum Praktikum in die Technisch-gewerbliche Ausbildungsstätte Freital. Der Chef der Einrichtung Matthias Wagner prüfte ihn persönlich eine Woche lang auf Herz und Nieren. Seine Beurteilung überraschte alle Beteiligten: „Rozan Sido hat praktisch die Elektroinstallation vom selektiven Hauptleitungsschutzschalter über Drehstromzähler bis hin zu den Endstromverbraucherkreisen durchgeführt. Dabei zeigte er ein sehr gutes handwerkliches Geschick und erledigte die ihm übertragenen Aufgaben sehr zügig. Er verfügt bereits über gute Kenntnisse in diesem Bereich, sodass er selbstständig ohne meine Hilfe die geforderte Installation mit gutem bis sehr gutem Erfolg abgeschlossen hat.“ Gesamtnote fürs Praktikum: 1,4.

Rozan verschickte an diesem Tag strahlende Smileys.

In den nächsten Wochen wird sich entscheiden, wie und wo er Arbeit findet. Seine Chancen stehen gut, meint Marion Reich. Elektriker werden gerade dringend gesucht. Eine Ausbildung braucht er nicht zwingend, vielleicht kann er mit dieser Beurteilung und einigen Wochen Einarbeitung auskommen und dann direkt eingestellt werden. Und sie hat da auch schon eine Idee. Frau Reich wird mit einer spannenden Dresdner Firma sprechen, die genau in der Sparte tätig ist, in der Rozan Sido bereits in Aleppo viel Erfahrung gesammelt hat. Mal sehen. Aber vielleicht melden sich ja auch noch andere Interessenten.

Auch Ehefrau Roshan kann Erfolgserlebnisse vorweisen. Nach langer Warterei hat es mit Kitaplätzen für ihre Kinder geklappt. Reva ist schon in der Eingewöhnung. Noch leiden Mutter und Tochter morgens, wenn sie sich trennen müssen. Aber Revas Tränen trocknen jeden Tag ein bisschen schneller. Dann spielt sie begeistert mit den neuen Freunden und hat sich daran gewöhnt, dass hierzulande schon Einjährige ihre Mahlzeiten an einem Tisch einnehmen. Und Roshans Sohn Kamal, der kleine Kraftprotz mit dem großen Bewegungsdrang, kommt im Oktober in die gleiche Kita. Beiden Kindern wird das guttun, davon sind die Eltern fest überzeugt. Beide sprechen noch kaum ein Wort und werden wohl als Erstes die deutsche Sprache lernen. Dann hat Papa weitere Sprachtrainer daheim.

Die Zusage der Kitaplätze war nicht nur für die Kinder eine gute Nachricht. Roshan, die neunzehnjährige Mutter, hat sehnsüchtig darauf gewartet, endlich lernen zu können. Im Gegensatz zu ihrem Mann freut sie sich unbändig darauf. Sie musste die Schule daheim kriegsbedingt mit 14 beenden und hat seither nur Krieg, Flucht und dann die Mutterpflichten kennengelernt. Mitte Oktober wird sie nun eine Sprachschule besuchen. Sie ist ausgesprochen sprachbegabt und spricht schon jetzt besser Deutsch als ihr Mann nach einem Jahr Unterricht. Die Schule hat ihr attestiert, dass sie auf den Alphabetisierungskurs verzichten und ihr Zeugnis bereits in einem halben Jahr bekommen kann.

Im Winter wird sie sich dann entscheiden müssen, welchen Beruf sie erlernen will. Noch schwärmt sie, wie bei uns Zehnjährige, alle paar Monate von einem anderen Beruf. Als Anwältin sah sie sich schon, als Dolmetscherin, als Krankenschwester. Für sie als junge Frau hat sich in Deutschland wie von Zauberhand eine Welt aufgetan, von der die junge Kurdin daheim nicht mal geträumt hat. So viele Möglichkeiten! So viele Freiheiten! Gegenwärtig träumt sie von einer Ausbildung als Mechanikerin.

Schon bald könnte sich also der Tagesablauf von Familie Sido gründlich ändern. Vater Rozan wird morgens die Wohnung verlassen, das eigene Geld für die Familie verdienen und erst nachmittags zurück sein. Mutter Roshan bringt morgens die Kinder in die Kita und geht dann zur Schule. Anschließend holt sie Reva und Kamal wieder ab, geht einkaufen und kocht für den Abend die Hauptmahlzeit. Anschließend werden die Kinder zu Bett gebracht und der Fernseher angestellt. Wie in jeder x-beliebigen deutschen Familie.

So hatten sie sich das vorgestellt, in den Trümmern von Aleppo.