SZ +
Merken

Leben auf der Strecke

Die Zahl der Pendler in Sachsen ist gestiegen. Frank Meißner ist einer von ihnen. Früher ist er weit gefahren, heute bleibt er im Land.

Teilen
Folgen
NEU!
© Arvid Müller

Von Christina Wittich

Frank Meißner pendelt. Hin und her. Dresden, Glauchau und zurück. Knapp drei Stunden täglich, 1 000 Kilometer pro Woche, acht Tankfüllungen im Monat. Wenn man ihn fragt, ob er sich sein Arbeitsleben so vorgestellt hat: auf der Straße, im Büro, wieder auf der Straße, sagt er: „Es gibt Schlimmeres.“ Auf der Straße zu stehen, beispielsweise, ohne Auto, ohne Arbeit, das wäre schlimmer. Auch an diesem Punkt war der 57-Jährige schon einmal angekommen.

Es ist früh am Morgen, dunkel, es regnet. Kurz nach sechs Uhr leuchtet der weiße Ford am Dresdner Hauptbahnhof auf. Von innen öffnet Frank Meißner die Beifahrertür. Ein freundlicher Mann, unscheinbar fast, in beigefarbiger Jacke und hellblauem Hemd, mit grauem Schnauzer und Bartstoppeln. Seine Brille hat einen dünnen Goldrand und erinnert an die Modelle, die Hipster heute wieder ironisch auftragen. Meißner hat auch Humor. „Sie wollen mit nach Glauchau?“, fragt er und zwinkert.

Frank Meißner pendelt, und er ist nicht allein. Beinahe 134 000 Menschen verlassen am Sonntag regelmäßig Sachsen, um wochentags in einem anderen Bundesland zu arbeiten und das knappe Wochenende dann wieder zwischen Autobahn und Familie aufzuteilen. Das sagt der Bericht des Landesamtes für Statistik. So viele Arbeitnehmer wie noch nie zuvor verdienen unter diesen Bedingungen ihren Lebensunterhalt. Frank Meißner stand auch eine Zeit lang in der sonntäglichen Autokolonne Richtung Westen.

Seit sechs Jahren zählt der Dresdner zum Stamm der Pendler. Frank Meißner setzt den Blinker. Das weiche Klick-Klack unterbricht die Stille, die noch im Wagen herrscht. Das Radio schaltet sich automatisch ein, wenn der Verkehrsfunk Störungen meldet. Heute nichts auf der Strecke. Der Wagen brummt, es ist warm, die Scheibenwischer sorgen für Sicht, im feuchten Halbdunkel leuchten entgegenkommende Scheinwerfer. Die Dresdner sind bereits auf den Beinen. 350 000 Sachsen überqueren wenigstens eine Gemeinde- oder Kreisgrenze, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen. Frank Meißner schwenkt ein auf die Autobahn.

Hinten, auf dem Rücksitz döst bereits sein Mitfahrer, ein Stammgast. Auf halber Strecke wird der Mann in einer Kleinstadt aussteigen, ohne viel gesagt zu haben außer einem halb gehusteten „Guten Morgen“. Auch er ist auf dem Weg zur Arbeit.

Als Planungsingenieur für Wasserwirtschaft arbeitet Meißner seit vier Jahren bei einem Glauchauer Tiefbau-Unternehmen. Der 57-Jährige verlegt Rohre, zumindest plant er deren Verlauf. „Meine größte Schwäche“, sagt er mit festem Blick auf die Straße, „ich verliere mich gern im Detail.“ Strich 120 Kilometer pro Stunde fährt er, selten schneller. Frank Meißner ist jemand, den man als korrekt bezeichnen könnte. Außerdem hat er einen Hang zu Wortwitzen: „Damals, als das Berufsinformationszentrum noch nicht angeschlossen war ans Modecenter“, sagt er. Er meint das Job-Center und sieht ein, dass Joop-Center, nach dem Modeschöpfer, nicht am nächsten lag.

Das Job-Center vermittelte ihm vor vier Jahren seine heutige Firma. Es passt zwischen beiden, darum lohnt sich der Aufwand, sagt Meißner. Eine vorhergehende Anstellung im nordrhein-westfälischen Bergkamen hielt er neun Monate lang durch, dann trennte man sich im gegenseitigen Einvernehmen. Mehr als 1 000 Kilometer pro Woche ist er ins Ruhrgebiet und zurück gefahren. Nicht viel mehr, als er auch jetzt pro Woche zurücklegt. Doch nimmt ihm die Autobahn jetzt nicht gleich alles, was ihm die Arbeit an Freizeit lässt.

Damals packte er seine Sachen am Sonntag, besuchte mit seiner Frau den Gottesdienst, sie aßen Mittag, er bereitete sich vor auf die Fahrt, sie tranken Kaffee, er fuhr los. Stunden später Ankunft in einer Wohnung, die er nicht eingerichtet hatte, wo niemand auf ihn wartete, wo auch er niemanden erwartete.

Sein Arbeitgeber hatte ihm die Wohnung möbliert vermietet. Das war praktischer. Warum nach etwas Eigenem suchen, wenn man nie vorhat, anzukommen. Frank Meißner hatte seinen Rechner dabei, einen Koffer mit Kleidung für eine Woche und Heimweh. Kinder haben er und seine Frau keine. Sie arbeitete in Dresden. Abends skypten sie. Zu Kollegen baute Meißner keine Beziehung auf. In Dresden ist er Mitglied einer freikirchlichen Gemeinde. In Bergkamen fand er keinen Anschluss. „Ich habe keine Wurzeln gesucht und auch keine gefunden“, sagt er.

Freitags packte er seinen Koffer morgens, ging zur Arbeit, verließ das Büro nach acht Stunden und stieg ins Auto. Wach hielt er sich mit Cola und gelegentlichen Zwischenstopps. Etwas mehr als fünf Stunden fuhr Meißner. Dann war er in Dresden. „Wenn man schon hinter Siebenlehn den Funkmast in Wilsdruff sehen kann, dann weiß man, man ist zu Hause“, sagt er. Noch heute ist der Mast wie ein Fingerzeig der Heimat. Bald ist er da.

Auf den Sonnabend konzentrierte sich in dieser Zeit sein Leben. Die Meißners trafen sich mit Freunden, die ihm so bald wie möglich eine Stelle in der Nähe wünschten. Das Paar versuchte aufzuholen, was es in der Woche vermisst hatte. „Uns ging es nicht gut“, sagt der 57-Jährige. Sie waren eine Familie, die keine war. Seine Frau habe gelitten, sagt er. Er selbst habe sich nicht wohl damit gefühlt, weder in Dresden, noch in Bergkamen wirklich da zu sein. Seine Laune sei schlechter geworden.

Ideal, sagt er, wäre es gewesen, eine Stelle in Dresden zu finden, „aber in Dresden nehmen sie nur die Rosinen, und zu denen gehöre ich offenbar nicht“. Er klingt bitter, und dann schweigt er. Am Horizont ist das Riesenrad des Sonnenland-Parks Lichtenau vor steingrauem Himmel zu sehen. Auf der Rückbank ist es still.

Blaulicht auf der Gegenspur. Ein Auto ist liegen geblieben. „Ich finde diese Kreuzpendelei schwierig“, sagt er nach einer Weile. „Wenn man bedenkt, dass die einen so weit fahren müssen und man gleichzeitig sieht, dass andere in die Gegenrichtung fahren, fragt man sich wirklich, ist es die Ausbildung oder sind die Arbeitsplätze so unterschiedlich, dass diese Fahrerei erforderlich ist. Manchmal hat man das Gefühl, dass da sehr viel auf dem Rücken der Arbeitnehmer ausgetragen wird.“ Mehr als 100 000 Menschen reisen wöchentlich nach Sachsen, um hier zu arbeiten.

Glauchau im Landkreis Zwickau liegt noch verschlafen auf seinen sieben Hügeln als Frank Meißner ankommt. Saftig grün glänzen die Parks vom Regen. Am Ortseingang leuchtet es gelb. Der Hersteller von Kartoffel-Fertiggerichten hat dort seine Hallen. „Wenn ich die sehe, weiß ich, ich bin gleich auf Arbeit“, sagt Meißner und lächelt tatsächlich.

Den Ort selbst kennt er anhand der Baustellen, die er betreut. Das Schloss hat er einmal besucht bei einem Ausflug mit der Firma. Viel mehr muss er nicht wissen. In Glauchau verdient der 57-Jährige sein Geld. In Dresden lebt er davon.

Frank Meißner hatte Stellen in Dresden, die er wieder verlor aufgrund der wirtschaftlichen Situation der Betriebe, wie er sagt. Als Kinderloser sei er oft einer der Ersten gewesen, die entlassen wurden. Auf seiner Suche nach neuer Arbeit dehnte er seine Grenzen aus. Nur Dresden wollte er nie verlassen. Er ist dort geboren, aufgewachsen, hat Erinnerungen, Familie und Freunde in der Stadt. Er kennt Menschen, die sind weggezogen, nicht weit, aber weit genug, um sich aus den Augen zu verlieren.

Montags bis freitags steht Meißner gegen fünf Uhr morgens auf. Er isst das Frühstück, das ihm seine Frau in der Nacht zubereitet hat. Aus gesundheitlichen Gründen arbeitet sie inzwischen nicht mehr. Sie schläft unruhig. In der vergangenen Nacht hat sie ihrem Mann ein Stück Donauwelle hingestellt und für den Tag ein belegtes Brot mit Rindsknacker eingepackt.

Zwischen sieben und acht Uhr abends kehrt Frank Meißner nach Hause zurück. Gemeinsam essen sie Abendbrot, räumen den Tisch ab, erzählen vom Tag. Dann legen sie die Beine hoch, gucken Tagesschau, vielleicht noch einen Krimi. Dann gehen sie schlafen. Es sind nur ein paar Stunden mehr Gemeinsamkeit, und manchmal spielt er lieber am Rechner als mit ihr zu reden. Aber sie ist da, und er ist da. Jeden Abend. „Irgendwie braucht der Mensch diese Nähe dann doch“, sagt Frank Meißner.