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Klaus und sein Kleinkram

Flechten und Moose galten als Pöbel in der Vegetation. Wissenschaftler Klaus Stetzka kämpft für ihre Ehrenrettung.

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© Karl-Ludwig Oberthür

Von Jörg Stock

Der Hochdruckreiniger, auch Kärcher genannt, ist im ländlichen Haushalt Standard. Klaus Stetzka hat ein Haus am Tharandter Wald und 2 000 Quadratmeter Grundstück dazu. Einen Kärcher aber hat er nicht. Vielleicht aus Prinzip. Die Kraftspritze wird gegen seine Lieblinge eingesetzt, wenn sie Terrassen, Mauern und Obstbäume besiedeln. Flechten und Moose gibt’s seit Jahrmillionen, sagt Stetzka. Heute redet man vom Fremdbewuchs. Was fremd ist, das muss weg. Am besten jeden Ast einzeln abkärchern. „Diese Kärcherleute gehen mir auf den Wecker!“

Den Forstwissenschaftler Klaus Stetzka findet man am Tharandter Institut für Forstbotanik in einem schlauchartigen Studierzimmer. Der Raum ist angefüllt mit Büchern und Gerätschaften, vor allem aber mit Kartons und Tüten, in denen die Früchte seiner jahrzehntelangen Sammelleidenschaft lagern. Dass jemand seine Begeisterung für die „Welt in der Welt“, wie er es nennt, weiterträgt, ist dem Forscher wichtig. Das merkt man daran, wie schnell er bei dem Thema in Fahrt kommt. Ja, wenn ihm was am Herzen liegt, kann er anfangen zu labern, sagt er. Flugs holt er Exponat auf Exponat hervor, eilt von der kleinen Kuchenflechte aus einem Laußnitzer Kiefernforst zur schwammartigen Wolfsflechte, gefunden an einer Lärche im Tiroler Kaunertal. Das Gewächs enthält ein Gift, womit man früher Fleischbatzen präparierte, um Wölfe zu töten. Stetzka deutet auf den Flechtenstaub im Couvert. Würde man den zu sich nehmen, wären Nasenbluten und Schwindel wohl das Mindeste.

Klaus Stetzka redet gern geradeaus. Das mag an seinem Geburtsort liegen. Bochum, tief im Westen, wo die Sonne verstaubt. Mit dem Zustand der Umgebung hat Stetzkas Spezialgebiet, die Niederen Pflanzen, viel zu tun. Sie sind Bio-Indikatoren, zeigen Veränderungen in der Umwelt an, lange bevor Gefäßgewächse, etwa Bäume, es tun. Diese Veränderungen, sagt er, sind menschengemacht. Statt gegen Moose und Flechten zu kämpfen wie gegen Windmühlenflügel, sollte man sich fragen, was sie uns mitteilen, findet der Wissenschaftler. „Der Kleinkram hält uns den Spiegel vor.“

Was er meint, demonstriert Klaus Stetzka gleich vor der Institutstür am Stamm einer Ulme. Vor dreißig Jahren wäre dieser Baum vermutlich eine „Flechtenwüste“ gewesen. Schwefelhaltige Luft und saurer Regen behinderten den Wuchs der empfindlichen Zwittergeschöpfe aus Pilz und Alge. Heute aber ist der Ulmenstamm übersäht mit Lebewesen. Ähnliches beobachten die Leute daheim in ihren Gärten. Viele glauben, die Bäume seien krank, sagt Stetzka. „Das ist Unsinn!“ Flechten und Moose haben mit dem Baum keine Verbindung. Was sie wachsen lässt, liegt in der Luft und im Wasser: Stickstoff.

Auf Anhieb erkennt Klaus Stetzka in dem vielfarbigen Belag am Ulmenstamm, fünf, sechs Flechtentypen. Heraus leuchtet die Gelbflechte. Die orangegelben Rosetten haben in den letzten Jahren rasant Boden gutgemacht, vor allem in landwirtschaftlich stark genutzten Gegenden, aber auch in der Stadt, wo viel Verkehr ist. Gülle, Dünger und Abgase befördern Stickstoff in die Umwelt, den die Gelbflechte liebt.

Eine Welt voller kleiner Freuden

Stickstoff ist ein wichtiges Bauelement des Lebens. Gibt es aber zu viel davon, wird er zum Problem. In Gewässern kann er eine Algenpest auslösen, die das Leben anderer Pflanzen und Tiere bedroht. Stickstoffverbindungen in der Luft fördern beim Menschen Atemwegskrankheiten. Mit dem Trinkwasser in den Magen gelangt, entstehen aus dem Stickstoff Nitrosamine, die als krebserregend gelten.

Klaus Stetzka nimmt eine Lupe zur Hand, um die Ulmenstammbewohner näher zu betrachten. Die zehnfache Vergrößerung macht aus dem „Pöbelvolk der Vegetation“, wie Naturforscher Carl von Linné die Flechten einst schmähte, wahre Landschaften. Klaus Stetzka liebt es, in diese Landschaften einzutauchen, sich darin zu verlieren.

„Gucken Sie mal hier! Eine superkleene Bartflechte!“ Das hat der Forscher nicht erwartet. Fast zärtlich zupft er an den dünnen Fädchen, die man Bryoria oder auch Brauner Moosbart nennt. Klaus Stetzka hat schon meterlange Exemplare gesehen. Dieses kümmerliche Gewächs hier kann froh sein, dass es bisher überlebt hat, trotz der harten Konkurrenz durch die Stickstoffliebhaber. Umso mehr freut den Fachmann die Entdeckung. Sie bestätigt sein Credo, das er gern auch den Studenten mitgibt: Die Welt ist voller kleiner Freuden. Die Kunst besteht darin, sie zu sehen.