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Kein Augenarzt in Sicht

Eine schwerbehinderte Riesaerin soll zur Untersuchung nach Döbeln pendeln, ihre Freundin aus Oschatz nach Riesa.

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© Sebastian Schultz

Von Dominique Bielmeier

Landkreis. Waltraud Dörfel hat sich zumindest den Humor bewahrt, wenn sie über ihre vielen Krankheiten spricht. „Ich bin ein einziges Ersatzteillager“, sagt die 71-jährige Riesaerin und kann noch lachen – obwohl schon am nächsten Tag wieder eine größere Operation ansteht. Mehrere Zähne müssen gezogen werden, wegen eines Tumors. Auf einem Auge ist Waltraud Dörfel nach einer OP fast blind, sie hat Diabetes, Probleme mit dem Knie, und musste damals nach einem schweren Herzinfarkt in Rente gehen. Heute stehen in ihrem Schwerbehindertenausweis 100 Prozent.

Mit all dem hat sich die Seniorin arrangiert. Nur eines macht sie wütend, lässt sie laut werden und fragen: „Ist das noch ein Rechtsstaat?“ Seit Wochen versucht die 71-Jährige, die sich nur mit dem Rollator fortbewegen kann und zu Hause am Stock geht, einen Termin für eine Kontrolle beim Augenarzt zu bekommen – vergeblich. Eine Riesaer Praxis kommt wegen der unüberwindbaren Treppe nicht infrage, die anderen Praxen nehmen sie nicht an.

Daraufhin hat sich Waltraud Dörfel hilfesuchend an ihre Krankenkasse, die AOK, gewandt. Eine Mitarbeiterin hat versprochen, sich für die Versicherte einzusetzen. Und tatsächlich, bald kam ein Rückruf, dass ein Augenarzt für die Seniorin gefunden wurde: in Döbeln, eine gute halbe Stunde entfernt. Und auch erst im August. „Da habe ich erzählt, ich bin an den Rollator gebunden, mein Mann und ich haben kein Auto.“ Die AOK-Mitarbeiterin habe ihr gesagt, sie könne doch von ihrem Pflegegeld die Fahrt nach Döbeln zahlen. Das ist Waltraud Dörfel jedoch zu teuer.

„Die einzigen, die ans Telefon gehen“

Stattdessen hat sie einen Antrag gestellt, dass ihr Schwerbehindertenausweis geändert wird. Bisher ist nur das Merkzeichen „G“ für Gehbehinderung eingetragen. Zum kostenlosen Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Mitnehmen einer Begleitperson berechtigt der Ausweis bisher nicht. Doch das Verfahren dauert, und Waltraud Dörfel muss sich vorerst mit ihrem Augenarzttermin in Döbeln abfinden.

Das hätte sie auch fast getan, bis sie sich mit Jugendfreundinnen traf und ihre Situation schilderte. Die Reaktion einer Freundin, die in Oschatz lebt, brachte Waltraud Dörfel dann endgültig auf die Palme: Ihre Freundin erzählte, dass es ihr genauso ergehe – nur sie soll nun von Oschatz zum Augenarzt nach Riesa pendeln. Diese Ungerechtigkeit war auch Waltraud Dörfels Ehemann zu viel. Der 77-Jährige wandte sich mit der Geschichte an die Sächsische Zeitung. Eine SZ-Anfrage bei der Krankenkasse von Waltraud Dörfel ergab, dass Riesa als „gut versorgt“ gilt, was Augenärzte betrifft. Pressesprecherin Hannelore Strobel nennt den ermittelten Versorgungsgrad zum 1. April dieses Jahres mit 112,4 Prozent. Doch stichprobenartige Anrufe bei den Augenärzten in der Stadt ergaben, dass diese mit Patienten ausgelastet, wenn nicht sogar überlastet sind. Mehrere Praxen waren telefonisch nicht zu erreichen. Eine Schwester bot für eine Kontrolluntersuchung – geschildert wurden Probleme mit trockenen Augen – einen Termin im September an, empfahl aber, sich lieber selbst mit Augentropfen oder dem Umstieg von Kontaktlinsen auf Brille zu behelfen.

Eine Ärztin einer anderen Praxis verwies auf den Optiker, der sich darum kümmern solle, und hatte einen Tipp, falls es doch unbedingt der Termin beim Augenarzt sein müsse: In ihrer Praxis läge am Empfang eine Liste mit allen Augenärzten im Umkreis von 50 Kilometern aus. „Wir sind auch die einzigen in Riesa, die ans Telefon gehen, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben“, so die Medizinerin am Ende des Gesprächs. Der AOK-Plus sind im Raum Riesa-Großenhain laut Sprecherin Strobel „keine Fälle bekannt, bei denen eine medizinisch notwendige Behandlung nicht zeitnah erfolgt ist“. Das betreffe alle Fachärzte. „In der Regel vergeben die fachärztlichen Praxen die Termine nach der medizinischen Dringlichkeit. Bei Vollauslastung der Praxis können die Ärzte Neupatienten auch ablehnen“, so Strobel. Nur bei Notfällen bestehe umgehende Behandlungspflicht.

30 Minuten Fahrtzeit sind zumutbar

Die AOK-Sprecherin hat einen Tipp, wie die Riesaerin vielleicht noch zu ihrem Augenarzttermin in der Nähe kommt: „Um Patienten bei der Suche nach Fachärzten beziehungsweise der Vermittlung von Facharztterminen zu unterstützen, haben die Krankenkassen mit der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen (KVS) seit 2014 eine Terminvermittlungsstelle eingerichtet“, erklärt sie. Dort werde allen gesetzlich Versicherten in Sachsen geholfen, die trotz eigener Bemühungen keinen Facharzt finden konnten. Mit dieser Vermittlungsstelle sei „ein Instrument geschaffen worden, das wirksam die Vergabe von Facharzt-Terminen regulieren und vernünftig auf die Sicherstellung der Patientenversorgung wirken kann“, so die Sprecherin. Dazu sei aber eine Überweisung des Hausarztes wichtig.

Die KVS ist für die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung im Freistaat zuständig. Deren Geschäftsführer Michael Rabe erklärte auf SZ-Anfrage, das Servicetelefon setze sich gerne mit den Augenärzten in Riesa in Verbindung, um einen Termin für Frau Dörfel zu finden. „Was die eventuelle Fahrt in einen anderen Ort betrifft, sollte sich Frau Dörfel bei ihrer Krankenkasse nach der Möglichkeit der Erstattung der Fahrkosten erkundigen“, so Rabe. „Unter bestimmten Voraussetzungen übernimmt die Krankenkasse auch Fahrtkosten.“

Der Geschäftsführer weist darauf hin, dass der Gesetzgeber eine Entfernung zum allgemeinen Facharzt, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln innerhalb von 30 Minuten bewältigt werden kann, als durchaus zumutbar ansieht. Die nächste Augenarztpraxis befindet sich fünf Minuten von Waltraud Dörfels Zuhause entfernt.

Terminvermittlungsstelle der KVS:  0341 23493733