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Jung, dynamisch, psychisch krank

Depressionen, Angststörungen, Panikattacken: Mehr als jeder vierte junge Erwachsene in Sachsen leidet unter psychischen Problemen.

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© Julian Stratenschulte/dpa

Von Stephanie Wesely

Angela Berg ist Lehrerin an einem Dresdner Gymnasium. Sie kennt den Leistungsdruck, dem junge Leute ausgesetzt sind – und dass nicht alle gleich gut damit umgehen können. „Zwei meiner ehemaligen Schüler haben sich unter anderem deswegen das Leben genommen“, erzählt die Lehrerin. Sie hätten Leistungsprobleme gehabt und Angst, als Versager zu gelten. Depressionen, Angststörungen, Panikattacken: Diese und andere psychische Probleme sind keinesfalls eine Frage des Alters. Zu dieser Erkenntnis kommt der neue Arztreport der Barmer. Dafür wurden bundesweit fast 900 Millionen Behandlungsfälle von 2005 bis 2016 ausgewertet. Demnach ist der Anteil der 18- bis 25-Jährigen mit psychischen Störungen in diesem Zeitraum um 38 Prozent gestiegen, bei Depressionen sogar um 76 Prozent.

Unklare Schmerzen

In Sachsen waren bei der letzten Erhebung fast 27 Prozent der jungen Menschen betroffen – fast doppelt so viele wie 2005. „Vieles spricht dafür, dass es künftig noch deutlich mehr psychisch kranke junge Menschen geben wird“, sagte Landesgeschäftsführer Fabian Magerl bei der Vorstellung der Studie am Dienstag in Leipzig.

Am häufigsten treten die sogenannten somatoformen Störungen auf. Das sind körperliche Beschwerden wie Schmerzen oder Schlafstörungen, für die es keine organische Ursache gibt. Die Krankheiten gehen häufig ineinander über. Viele Betroffene leiden an mehreren gleichzeitig.

Psychische Erkrankungen junger Menschen sind verantwortlich für fast die Hälfte aller Krankenhaustage in Sachsen, denn 13 Prozent der an Depressionen erkrankten jungen Menschen müssen vollstationär behandelt werden. Ihre medizinische Versorgung kostete zwischen 2015 und 2016 im Schnitt 5 000 Euro pro Fall.

Ein besonders hohes Risiko haben junge Erwachsene, die bereits in der Kindheit psychisch auffällig waren oder deren Eltern an solch einer Krankheit leiden. Das war auch bei Angela Berg der Fall. Ihr Vater litt an schweren Depressionen. „Als ich 13 Jahre alt war, beging er Suizid. Ich habe ihn gefunden.“ Psychotherapeutische Behandlungen für Kinder hätte es zu DDR-Zeiten kaum gegeben, sagt die Frau. Sie kam kurzzeitig in eine Klinik, doch da sei es nur schlimmer geworden. „Mit 30 begann ich eine Therapie. Zu spät, um verfestigte Schuldgefühle und Minderwertigkeitsgedanken völlig loszuwerden, auch wenn ich sie längst als falsch anerkenne.“

Eine psychotherapeutische Behandlung zu bekommen, ist auch heute schwer. Betroffene müssen bis zu 20 Wochen warten, wie eine Studie der Bundespsychotherapeutenkammer zeigt. „Oft meiden Betroffene aus Scham den Gang zum Arzt“, sagt Magerl. Ein großes Hilfspotenzial sehe er daher in Online-Angeboten.

Jeder sechste Studierende depressiv

Besonders häufig psychisch krank sind Studenten. Dem Report zufolge leiden in Sachsen allein 10 300 von ihnen an Depressionen. Das ist jeder Sechste. Mehr als ein Drittel der Erkrankten nimmt Antidepressiva. Die Verordnungen haben in dieser Altersgruppe seit 2005 um 60 Prozent zugenommen. Als Gründe für den Anstieg nennt die Barmer zu hohe Erwartungen an sich selbst und den Leistungsdruck, dem die Akademiker nicht standhalten. Dies sei besonders bei älteren Studenten ab 29 Jahren der Fall.

„Die Studierenden vergleichen sich oft mit Gleichaltrigen, die ihr Studium schon abgeschlossen und Familie gegründet haben, sie fühlen sich damit als Versager“, weiß Beatrix Stark. Sie ist psychosoziale Beraterin an der Uni Leipzig und hat sehr häufig mit den „älteren Semestern“ zu tun. Auch finanzielle Probleme würden in dem Alter verstärkt zutage treten. „Das Kindergeld fällt weg, sie müssen selbst Krankenversicherung bezahlen und somit oft neben dem Studium noch jobben – das schlaucht.“ Der Leistungsdruck spielt aber die größte Rolle. „Man muss immer bei den Besten sein, um zum Beispiel vom Bachelor- in den Masterstudiengang zu kommen. Das schafft kaum die Hälfte“, sagt sie. „Die Zukunftsängste nehmen zu.“ Zudem fehle vielen Studenten die Selbstorganisation. Dafür müssten aus ihrer Sicht bereits im Gymnasium die Grundlagen gelegt werden. Viele seien überhaupt nicht aufs Studium vorbereitet.

Niedrigschwellige Beratungsangebote sind auch aus Sicht von Lehrerin Angela Berg eine gute Möglichkeit, psychische Erkrankungen zu vermeiden. Doch das dürfe nicht erst an der Uni beginnen. Solche Angebote gehörten auch in die Schulen.

Erfolgsdruck durch die Eltern

In der Versorgung mit Schulpsychologen ist Deutschland nach wie vor mangelhaft, wie der Berufsverband Deutscher Psychologen feststellt. „2016 kamen auf einen Schulpsychologen 9 000 Schüler. Internationale Standards fordern aber ein Verhältnis von 1:1 000.“ Eine große Verantwortung liegt aus Sicht von Angela Berg aber bei den Eltern. „Sie erwarten von ihren Kindern all das, was sie selbst nicht erreicht haben. Sicher in guter Absicht.“ Doch der Erfolgsdruck mache die Jugend nur noch kränker.

Die Lehrerin wird in Kürze in den Ruhestand gehen. Deshalb outet sie sich. Nur die wenigsten Menschen in ihrem Umfeld hätten etwas von ihrer Depression bemerkt. „Mir ist es immer gelungen, in Schule und Arbeit sehr gute Leistungen abzuliefern“, sagt sie. „Doch in mir sah es ganz anders aus, da tobte ein Kampf zwischen Lebensmüdigkeit und Leistungsdruck.“

Folgende Online-Angebote zur Erkennung und Behandlung psychischer Krankheiten sind krankenkassenübergreifend und kostenfrei nutzbar: www.studicare.com, www.diskussionsforum-depression.de, www.fideo.de