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Im Himmelsort

Über seine Visionen lächeln einige. Den Bürgermeister von Nebelschütz spornt das an. Seit Jahren geht er ungewöhnliche Wege.

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© Uwe Soeder

Von Miriam Schönbach

Das Wort für Himmel – „Njebjo“ – steckt im sorbischen Namen des kleinen Dorfes zwischen Bautzen und Kamenz. Auf den Orteingangsschildern steht Njebjelcicy und Nebelschütz. Kleinere Häuser wechseln sich mit Höfen ab. Wegkreuze stehen am Straßenrand. Auf einer Anhöhe hat der Baumeister der Dresdner Hofkirche, der italienische Architekt Gaetano Chiaveri, im 18.  Jahrhundert das katholische Gotteshaus gesetzt. Zu seinen Füßen liegt heute das Kinderhaus „Barbojte kamuški“ – „Bunte Steinchen“ – ein moderner Vierseithof.

Durch seinen Garten tollen an diesem Vormittag Jungen und Mädchen. Fröhlich haschen sie nach den Schneeflocken, und Bürgermeister Thomas Zschornak huscht ein Lächeln über das Gesicht. „Die Philosophie unserer Gemeinde ist, alles für die Kinder zu tun“, sagt er am Spielberg vor der Kindertagesstätte und stopft seine Hände in die Jacke. Die ersten Pläne für das Haus hatte er, als im Dorf nur drei Kinder pro Jahr geboren wurden und die Schule wegen sinkender Schülerzahlen schließen musste. Mancher lächelte damals über ihn. Er antwortete: „Jede Sache muss wachsen“.

Es ist diese Haltung, die Nebelschütz vielleicht ein wenig von anderen Orten unterscheidet. In einer Region, in der sich viele abgehängt und von der Politik missachtet fühlen, setzen die Menschen hier auf eigene Ideen und die Kraft der Gemeinschaft. Thomas Zschornak klingelt im Kindergarten. 75 Vorschul- und 12 Hortkinder werden hier betreut. 15 Geburten pro Jahr stehen inzwischen in der Gemeindestatistik. Längst ist der vor drei Jahren eröffnete Neubau zu klein. Davor wurde zehn Jahre geplant – mit Standortuntersuchung, Diskussion im Gemeinderat und mit Bürgern und Architektenwettbewerb. Drei Jahre dauerte der Kampf um die Finanzierung.

Für einen Augenblick weicht das Lächeln aus Zschornaks Gesicht. Zwei Millionen Euro hat der Bau gekostet, 42 Prozent Eigenmittel musste die Gemeinde aufbringen. „Das ist keine gute Förderpolitik. Das macht es doch eigentlich allen Kommunen unmöglich, neue Kindergärten zu bauen“, sagt er. Mit Kreativität sei es gelungen, die Gelder zusammen zu tragen. Der 54-Jährige geht in einen Gruppenraum, irgendwo spielt hier einer seiner drei Enkel. Enkel Nummer vier ist unterwegs, zwei Kinder leben in Berlin und Hannover. Sein ältester Sohn hat sich im Dorf ein Haus gebaut, so wie der Vater vor 34 Jahren.

Seine Kindertage verbringt der Sorbe im zehn Kilometer entfernten Cunnewitz mit fünf Geschwistern, und im „Einklang mit der Natur“. Die Mutter arbeitet in der Landwirtschaft, der Vater ist in der Meliorationsgenossenschaften. „Aus den Wiesen, die er seinerzeit trockenlegte, holen wir heute die Rohre wieder heraus, um Feuchtwiesen zu schaffen“, sagt der Bürgermeister. Als der Spitzenkandidat der CDU zur ersten freien Kommunalwahl 1990 seine Kandidatur zurückzieht, überreden Freunde und der Pfarrer den gerade 26-Jährigen, Verantwortung zu übernehmen.

Damals ist er schon Chef der Nebelschützer Bürgerinitiative und in der neugegründeten Ortsgruppe der Christdemokraten, die sich bewusst von der alten Ost-CDU distanziert. Aus dem Rückblick weiß er: „Wir waren Revoluzzer ohne Konzept“. Der junge Zschornak nutzt den Wind der Veränderung. Nicht Mauern bauen ist sein Credo, sondern Windmühlen.

Die „Wende“ schüttelt ganze Leben, Dörfer, Familien durcheinander. Im landwirtschaftlich geprägten Nebelschütz brechen die LPG und Betriebe weg. Viele Menschen suchen ihr Glück in der Ferne. Zschornaks Abenteuer aber heißt als Bürgermeister, eine Vision für seinen Ort zu haben, die mehr als nur eine Generation trägt. Schnell erkennt er, Politik und Verwaltung müssen sich um die Menschen kümmern und sie bei Entscheidungen einbeziehen. Bauchgefühl trifft auf Menschenverstand und „die Erkenntnis, dass es sich lohnt, für eine Sache zu kämpfen“. Die Nebelschützer wehren sich gegen Pläne zu einer Hochmülldeponie an der Grenze zum Ort – mit Erfolg. Gemeinsam planen sie eine Ortsumgehung, bei der nicht „das schöne Dorf hinterm Erdwall verschwindet“. Gemeinsam stemmt sich die Gemeinde gegen Fusionspläne und gibt sich eine Erhaltungs- und Gestaltungssatzung, um das ursprüngliche Dorfbild zu bewahren.

Diese Mühe lohnt sich: Über Jahre sammelt Nebelschütz so viele Auszeichnungen wie fast keine andere sächsische Gemeinde – vom EU-Dorferneuerungspreis bis zum Titel „Kerniges Dorf“, gerade erst durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft verliehen. Die Jury begründete ihre Entscheidung mit öffentlichen und privaten Initiativen für eine nachhaltige Dorfentwicklung, mit der eine positive Bevölkerungsentwicklung gelungen sei.

Das zeigt sich nicht nur bei den „Barbojte kamuški“, sondern auch bei den raren Bauplätzen. „Wenn ein Haus leer steht, findet sich schnell eine junge Familie. Wir brauchen Menschen, die neue Gedanken mitbringen und das Dorf mittragen“. Schwungvoll öffnet Thomas Zschornak die Tür zum Bio-Laden. Ruth Tinschert steht hier hinter dem Verkaufstresen. Sie ist eine von vielen Mitstreitern im sorbisch-deutschen Dorf, die den Wind der Veränderungen nutzen, um Windmühlen anzutreiben.

Im Dorfladen duftet es nach Brot vom Räckelwitzer Bäcker. Mitten im Geschäft stehen sechs Sorten Winteräpfel aus der Region. In der Kühlung liegen Käse und Wurst von Bio-Erzeugern aus der Nachbarschaft. Es ist ein Marktplatz für regionale Produkte. „Ich hole nachher noch Butter“, sagt Thomas Zschornak. Das Lädchen ist das jüngste Kind der Gemeinde. Vier En-thusiasten haben sich dafür zusammengetan – ohne Kredit, mit 2 000 Euro Eigenmitteln und Unterstützung der Gemeinde. Dieser Tante-Emma-Laden war auch so eine Vision, über die mancher lächelte. Ruth Tinschert hat für den Nebelschützer Weg ihrer Wahlheimat Leipzig den Rücken gekehrt.

„Eigenverantwortung übernehmen“ nennt der Bürgermeister solche Initiativen – und diese Liste ist lang. Sie beginnt mit den öffentlichen Blumenrabatten, die ein paar Frauen aus dem Dorf pflegen, und reicht bis zum Engagement der Vereine. Am bekanntesten ist der „Steinleicht“-Verein. Seine Mitglieder organisieren in der Gemeinde mit 1 200 Einwohnern jährlich eine Internationale Bildhauerwerkstatt am Miltitzer Steinbruch. Das Gelände hat die Gemeinde wie zahlreiche andere Flächen gekauft – als Enkelprojekt. Auf den Flächen werden Streuobstwiesen, Benjes-Hecken und Obstbaumalleen gepflanzt – mithilfe der Unternehmen. Sie zahlen auf ein Öko-Konto Geld für Ausgleichsmaßnahmen ein, zum Beispiel, wenn bei Bauprojekten Grünflächen versiegelt werden.

Die Butter holt der Bürgermeister später, stattdessen muss er schnell noch zum Tourismusverantwortlichen Karl Mildner vom Heimat- und Kulturverein. Vor der Bürotür steht eine Holzskulptur des sorbischen Zaubermeisters Krabat. „Diese Figur entspricht dem Naturell unseres Bürgermeisters“, sagt Mildner. Die Sagengestalt geht auf den kroatischen Rittmeister Johann Schadowitz zurück, der 1695 vom sächsischen König das Vorwerk in Groß Särchen geschenkt bekam. Der neue Herr legt Sümpfe trocken und bringt neues Wissen ins Sorbenland. In der Sage lernt Krabat sein Zauberhandwerk beim Schwarzen Müller. Zschornak heißt ins Deutsche übersetzt „Schwarzer“.

Mit einer Handbewegung schiebt der gelernte Installateur den Vergleich weg. „Es gibt hier viele Krabats, die die Gemeinde mittragen“, sagt er.

Im Dorfzentrum geht es die Treppe hoch ins Büro. Nebenan sollen demnächst die Hortkinder einziehen, um im Kindergarten Platz für weitere Neuankömmlinge zu schaffen. Der nächste Meilenstein für Thomas Zschornak ist eine neue Schule in freier Trägerschaft. Ihre Eröffnung wäre ein schönes Abschiedsgeschenk am Ende seiner Amtszeit. In vier Jahren will er neue Wege gehen. Es gibt noch so viele Ideen.

Aus seiner Arbeitstasche fischt der Nebelschützer ein Päckchen mit weißen Kristallen hervor. Die Mappe aus Kamelleder ist ein Andenken an seine Rucksackreise durch Afrika vor 20 Jahren. Aller zwei bis drei Jahre macht der Sorbe solche Touren jenseits des Wohlstands. Durch Indien, Kuba und Indonesien ist er auch getrampt. „Da weiß man wieder das gute Leben zu schätzen und spürt, wie glücklich Menschen auch mit wenig sind“, sagt er.

Dieses Wenige kann manchmal auch Salz aus den Mangroven-Wäldern an den Küste Benins sein. Zschornak hält es abgetütet in seinen Händen. „Eine Frauengenossenschaft stellt es her. Wir wollen daraus Krabats Kräutersalz machen. Die Zertifizierungen sind durch“, sagt er. Den Plan ausgeheckt hat er mit Dah Bokpe von Allada. Den Prinzen aus dem afrikanischen Benin lernte er vor knapp 20 Jahren auf der ITB in Berlin kennen. Seitdem spinnen sie regelmäßig Projekte und besuchen sich gegenseitig. Im kommenden Januar reist der Lausitzer zum Voodoo-Festival nach Ouidah. Im Gepäck hat er dann vielleicht schon Krabatsche Salz mit Kräutern von den Wiesen des Himmelsorts Nebelschütz.