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„Ich wollte endlich wissen, was passiert ist“

Helga Klinik wurde im Gefängnis in Waldheim geboren. Ihre Eltern hat sie nie kennengelernt. Nun will sie Gewissheit.

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© Kristin Richter

Von Kathrin Krüger-Mlaouhia

Großenhain. In der Großenhainer Marienkirche wurde Helga Klinik getauft. Hier heiratete sie ihren Dieter, hier wurden auch die Zwillingskinder getauft – ganz provokativ an einem 1. Mai 1975. Was nach einer ganz normalen Familiengeschichte klingt, war es aber nicht. Helga, geborene Schuricht, fragte sich mit sechs Jahren erstmalig bewusst, warum ihre Eltern eigentlich Uschner heißen. Ihre Geburtsurkunde hat die heute 66-Jährige erst nach der Wende gesehen. Als Teenager wurde sie öfter mit ihrem Bruder Klaus Schuricht in Verbindung gebracht, dem Mörder eines Radeburger Gastwirtsehepaares. Helga kannte ihn nicht. Und ihre wahren Eltern kannte sie auch nicht.

Der Gedenkgottesdienst der IG Mahnmal zum Volkstrauertag in der Marienkirche. Gudrun Kracht (links), Horst Krüger, Heinz Müller und Helga Klinik (hinten) tragen die Gedenkbücher in den Turmraum.
Der Gedenkgottesdienst der IG Mahnmal zum Volkstrauertag in der Marienkirche. Gudrun Kracht (links), Horst Krüger, Heinz Müller und Helga Klinik (hinten) tragen die Gedenkbücher in den Turmraum. © Kristin Richter

Helga Klinik war 1951 im Zuchthaus Waldheim zur Welt gekommen. Nach sechs Monaten Stillzeit nahm man ihrer Mutter Frieda die Tochter weg, später kam sie in eine Pflegefamilie. Frieda Schuricht, der Gastwirtsfrau aus Folbern, und ihrem Mann wurde Spionage vorgeworfen. Bisher ist nur bekannt, dass sie Alkohol an Sowjetsoldaten vom Großenhainer Flugplatz verkauften. Ein sowjetisches Militärtribunal verurteilte Frieda Schuricht ohne Rechtsbeistand zu zehn Jahren Zwangsarbeit. Ihr Mann Max kam nach einem halben Jahr frei und ging dann in den Westen. Helgas Mutter wurde nach der Haftentlassung 1954 nervlich am Ende nach Arnsdorf gebracht. Dort starb sie kurz vor Weihnachten 1962.

Das alles blieb Helga Klinik lange verborgen. „Ich hatte eine schöne Kindheit bei meiner Pflegefamilie in Großenhain“, sagt sie. Sie hätte ja auch ins Heim kommen können. Dass ihre Mutter jetzt in einer Ausstellung in der Marienkirche als Opfer der Nachkriegszeit mit aufgeführt wird, hat für die heutige Dortmunderin seine Berechtigung. „Ich hatte keine Ahnung, ich wollte einfach Gewissheit über das, was meinen Eltern passiert ist“, sagt Helga Klinik. Sie findet es wichtig, dass man nun darüber sprechen kann, was zu DDR-Zeiten unterdrückt wurde. „Das muss in die Öffentlichkeit“, sagt Klinik. Andere, die an diesem Volkstrauertag zum feierlichen Gedenkgottesdienst in der Marienkirche sitzen, wurden vielleicht körperlich verletzt und seelisch krank.

Mit Helga Klinik meinte es das Schicksal besser. Sie wurde Sekretärin, heiratete 1972 ihren Dieter, der in der Elmo tätig war und aus Hirschfeld stammt. Die Familie wohnte auf der Lindengasse. Doch 1984 stellte Helga Klinik einen Ausreiseantrag. Damit begannen die Probleme von Neuem. Ein Schwager von Dieter Klinik war hoher Stasi-Offizier und wollte die Ausreise wegen der eigenen Karriere verhindern. Die Familie wurde diffamiert und von einem Nachbarn bespitzelt. Kurz vor der Öffnung der Grenze konnten die Kliniks dann allerdings doch gehen. „Wir sind aber fast jedes Jahr zu Besuch in Großenhain“, sagt das Ehepaar.

Dass hier die IG Mahnmal Marienkirche mit den Gedenkbüchern und öffentlichen Veranstaltungen auf erlittenes Unrecht auch nach dem Krieg aufmerksam macht, findet Helga Klinik lobenswert und selten. Mit ihren beiden Töchtern spricht sie über das Schicksal der Familie. Fotos ihrer wahren Eltern kann sie aber nicht zeigen – sie hat keine. Das Grab ihres Vaters in Lörrach gibt es auch nicht mehr.

Vergebung und Versöhnung können Wunden heilen, so Pfarrer Konrad Adolph. Die Marienkirche bietet Jahr für Jahr zum Volkstrauertag einen würdevollen Rahmen für das Gedenken. Die Gedenkbücher der IG Mahnmal umfassen bereits 2570 Namen aus dem Kirchenbezirk, so Siegfried Behla. Viele Angehörige blättern im Turmraum darin oder zünden eine Kerze an. Diese Feierlichkeit wird auch Helga und Dieter Klinik in Erinnerung bleiben. Trotz aller Ungerechtigkeit, die damals passiert ist.