Merken

„Ich will keine Muslima mehr sein“

Roshan Sido wuchs bei Afrin auf, sie leidet wie alle Kurden unter der türkischen Invasion. Und zieht ihre Konsequenz.

Teilen
Folgen
© Anadolu Agency/Halil Fidan

Von Olaf Kittel

Hastig wischt Roshan Sido über ihr Smartphone. Sie zeigt Fotos aus der syrischen Stadt Afrin, die nach wochenlangen Gefechten nun von türkischen Truppen besetzt ist. Bilder aus dem zerstörten Krankenhaus, dem Einzigen in der Region, von Schwerverletzten, von schreienden Kleinkindern. „Erdogan behauptet, die Kurden seien Terroristen. Er lügt. Erdogan ist der Terrorist.“ Andere Fotos zeigen die zerstörte Innenstadt, verzweifelte Menschen hocken in den Trümmern. Und viele Fotos von Plünderungen der gerade einmarschierten Soldaten von der „Freien syrischen Armee“, die den Türken bei ihrer Invasion halfen. Roshan ist mehrfach den Tränen nah.

Das Schicksal der kleinen Stadt geht allen Kurden nah. Sie gilt als eine der schönsten in Syrien und war bisher von Zerstörungen weitgehend verschont geblieben. Hier funktionierte eine kurdische Selbstverwaltung ziemlich gut. Für Roshan Sido, die 2015 mit ihrer Familie aus Aleppo floh und nach Dresden kam, ist die Stadt nicht nur Symbol, sondern Heimat. Sie wuchs im Dorf Kusan an der türkischen Grenze auf, kaum 50 Kilometer von Afrin entfernt. Oft war sie als Kind mit den Eltern dort zum Einkaufen auf den Märkten, hier trafen sie sich mit Verwandten zum Picknick. Als junges Mädchen bummelte sie gern mit einer Freundin durch die engen Altstadtgassen und naschte vom süßen Baklava. Viele Geschenke zu ihrer Hochzeit stammen von hier. Schlimmer als die Bilder der Zerstörung und vom Leid der Menschen, schlimmer sogar noch als die Sorgen um die Angehörigen in der Stadt, quält Roshan Sido und ihre Landsleute ein Gefühl grenzenloser Hilflosigkeit.

Die Türken und ihre Verbündeten konnten einmarschieren, ohne dass die Amerikaner, die Nato, die Russen einen Finger rührten. Trotz aller Versprechen und Soldaritätsadressen. Aber hatten nicht die kurdischen Soldaten, so fragen sie sich, im Bündnis mit den USA den größten Anteil daran, dass der IS in Syrien weitgehend besiegt wurde? Und hatten sie nicht den größten Blutzoll entrichtet? War ihnen nicht dafür Schutz und künftig eine Autonomieregelung in Syrien versprochen worden, um ungehindert ihre Kultur leben und ihre Sprache sprechen zu können? Ihnen, dem weltweit größten Volk ohne eigenen Staat.

Roshan Sido und ihre Landsleute mussten die bittere Erfahrung machen, dass sich niemand für die kurdische Sache militärisch der türkischen Armee entgegenstellen wird. Sie mussten sogar ertragen, dass deutsche Panzer gegen kurdische Einheiten im Einsatz waren. Panzer aus jenem Land, dass vielen Kurden Schutz vor Krieg und Verfolgung bot.

Zurück blieb bei Roshan Sido zunächst Wut, dann eher Hilflosigkeit und Schmerz. Was tun?, hat sie sich immer wieder gefragt. Vier kurdische Familien versammelten sich mal in Dresden mit Plakaten gegen Erdogan zu einer kleinen Protestkundgebung. In sozialen Netzwerken führt sie Debatten mit in Deutschland lebenden Türken, hoch emotional, alles andere als freundlich.

Inzwischen hat Roshan Sido, Mutter zweier kleiner Kinder, eine sehr persönliche Entscheidung getroffen. „Ich bin keine Muslima mehr – nur noch Mensch.“ Ihren Gott trage sie zwar weiter im Herzen, aber mit dieser Religion wolle sie nichts mehr zu tun haben. „Alle missbrauchen den Ausruf ,Àllahu Akbar’, Gott ist groß. Es ist doch eigentlich eine friedliche Wendung. Aber jetzt ziehen alle mit diesem Ruf in den Krieg. Der IS, Erdogan, Assads Soldaten, die Iraner, alle. Viele Menschen sterben im Namen dieser Religion. Und dieser schreckliche Hass! Ich will nicht mehr der gleichen Religion angehören wie diese Leute.“

Für die Zukunft ihrer Heimat ist sie ohne Illusionen. Nachdem Zehntausende Kurden jetzt aus der Stadt und der Region fliehen, wird Erdogan – so meint sie – viele arabischstämmige Flüchtlinge aus der Türkei in die Stadt schicken. Um sie los zu sein und um den Kurdenanteil in ihrer Stadt zu reduzieren. Die Kurdenorganisation YPG will sie aber auch nicht zurück, sie ist ein Ableger der PKK. Sehr klarsichtig meint sie: „Die ist nicht demokratisch und keine Lösung für die Zukunft.“ Ein Verwandter von ihr postete sogar diese Woche auf Facebook: „In Afrin haben nur die Gefängniswärter gewechselt.“

Inzwischen wird darüber spekuliert, ob die von den USA hochgerüsteten kurdischen Einheiten zum Guerillakrieg gegen die Türken übergehen werden.

Der Frieden in Syrien ist noch weit weg.