Merken

„Ich nehme die Entschuldigung an“

Ein VW-Bus krachte auf der B 170 mit einem Transporter zusammen. Vor Gericht treffen sich die beiden Fahrer wieder.

Teilen
Folgen
NEU!
© Archivfoto: Roland Halkasch

Von Franz Werfel

Freital. Es ist die Horrorvorstellung eines jeden Autofahrers: Man fährt auf freier Strecke eine Landstraße entlang und plötzlich zieht ein entgegenkommendes Fahrzeug auf die eigene Fahrbahn. Ausweichen kann man nicht mehr, nur bremsen. So erging es vor einem Jahr dem damals 54-jährigen Autofahrer Detlef B. auf der Bundesstraße 170 zwischen Karsdorf und Dippoldiswalde.

B. ist am Mittwoch, dem 29. April, mit seinem Ford Transit auf der Bundesstraße in Richtung Dippoldiswalde unterwegs. Es ist leicht bewölkt, regnet aber nicht, die Fahrbahn ist trocken. Auf der Straße ist viel los, 16.10 Uhr, mancher Pendler ist schon auf dem Heimweg. Nachdem B. aus Karsdorf herausfährt, kommt ihm hinter dem Abzweig Hermsdorf ein VW-Bus entgegen. Etwa hundert Meter bevor sie sich begegnen, zieht Dieter E., der damals 65-jährige Fahrer des Busses, auf die Gegenfahrbahn.

„Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern“, sagt der heute 55-jährige Ford-Fahrer B. Am Freitagvormittag war er am Amtsgericht Dippoldiswalde als Zeuge geladen. E. sitzt ihm auf der Anklagebank schräg gegenüber. „Ich erinnere mich an die Schrecksekunde. Und an die Erkenntnis: Du kannst nichts mehr machen.“ Doch er versucht noch, zu bremsen. Mit Geschwindigkeiten von je etwa 80 Stundenkilometern krachen die Autos zusammen.

Die Folgen des frontalen Zusammenstoßes: zwei schwer verletzte Männer, zwei Schrottwagen, drei Feuerwehren im Einsatz und eine für drei Stunden voll gesperrte Bundesstraße. Den Fordfahrer muss die Feuerwehr aus seinem Auto herausschneiden. „Vor zehn oder 15 Jahren hätten Sie beide den Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überlebt“, sagt Richterin Diana Höllrich-Wirth in Anspielung auf die heutige Sicherheitstechnik.

Überlebenschance gering

Beide Männer liegen lange im Krankenhaus, der 55-jährige Bannewitzer B. vier Monate lang. „Die Ärzte in Dresden und Kreischa haben mir zehn Prozent gegeben, dass ich überlebe“, sagt er. Zwischenzeitlich wird er ins künstliche Koma versetzt. Kniescheibe und Schienbein sind zertrümmert, er hat eine Schädelfraktur, mehrere Rippen sind gebrochen, seine Lungen sind gequetscht, die Stimmbänder ebenfalls. Drei Monate kann er fast nicht sprechen. Noch Ende Juni stellt er Strafanzeige gegen den Unfallverursacher E. Vor Gericht musste sich E. wegen fahrlässiger Körperverletzung verantworten. Autofahrer, die den Unfall beobachteten, haben ausgesagt, dass E. seinen VW-Bus konsequent auf die entgegenkommende Fahrbahn gesteuert hat.

Dieter E., gelernter Maschinenbauer und mittlerweile Rentner, stammt ebenfalls aus einem Bannewitzer Ortsteil. Die beiden Männer kannten sich vor dem Unfall nicht. Ihm ging es gut an jenem Tag, erzählt E. vor Gericht. „Ich hatte keinen Stress, hatte keinen Alkohol getrunken, war nicht müde.“ Ihn stört an seinem Strafbefehl, dass er fahrlässig gehandelt haben soll. Auch er kann sich nicht an den Unfallhergang erinnern. Nur soviel: „Ich war wie bewusstlos.“ So etwas sei ihm noch nie zuvor passiert. Die Richterin will verstehen, warum E., der trotz seiner gefühlten Bewusstlosigkeit der Polizei zufolge noch versucht hatte, zu bremsen, nicht auf seine Spur zurückgewichen war. „Das macht man doch instinktiv“, so Höllrich-Wirth.

Warum er nicht mehr gegensteuerte, diese Frage kann vor Gericht nicht geklärt werden. Von zusätzlichen medizinischen und verkehrsrechtlichen Analysen sieht die Richterin ab. E. hat keine Rechtsschutzversicherung, das Verfahren könnte den Rentner teuer zu stehen kommen. Und auch B. sagt, dass es ihm vor allem um das Schmerzensgeld geht. Bis zu dem Unfall war er als Landschaftspfleger tätig. Ob er jemals wieder arbeiten kann, ist noch nicht klar. Für das Schmerzensgeld ist E.s Haftpflichtversicherung zuständig. B. sagt nicht mehr, dass ihm an einer strafrechtlichen Verurteilung von E. gelegen sei. „Ich habe nichts gegen diesen Mann.“

Entschuldigung nachgeholt

Noch ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Während E.s Krankenhausaufenthalt wurde bei ihm eine schwere Krankheit festgestellt. Die hat er mittlerweile nach mehreren Therapien und einer andauernden Spritzentherapie im Griff. Der Unfall hat das Leben des 55-jährigen Bannewitzers B. zerstört. „Ich bin froh, noch am Leben zu sein“, sagt er. Möglicherweise hat aber ausgerechnet dieser Unfall E.s Leben gerettet. Denn erst dadurch wurde seine lebensbedrohliche Krankheit diagnostiziert.

E.s Sohn hat sich bei B. nach dem Unfall entschuldigt. „Ich hatte wegen meiner Diagnose mit mir zu tun“, sagt E. Vor Gericht ist es ihm wichtig, das nachzuholen. „Ich weiß, dass ich dadurch nichts wiedergutmachen kann“, sagt er. „Aber ich will, dass Sie wissen: Es tut mir unendlich leid. Ich wollte das nicht.“ Der 55-jährige B. nimmt die Entschuldigung an. Richterin, Staatsanwaltschaft und Verteidiger einigen sich darauf, das Verfahren gegen eine Zahlung von 2 000 Euro einzustellen. Je 1 000 Euro gehen an die Staatskasse und an Ärzte ohne Grenzen. Zusätzlich bittet Richterin Höllrich-Wirth die Fahrerlaubnisbehörde im Pirnaer Landratsamt, die Fahrtauglichkeit des 66-jährigen E. zu prüfen.