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Hupfen Sie, Gorlitz!

Sie kamen nur zum Studieren. Doch dann gründeten sie eine lustige Rockband, später Familien und sind in Görlitz geblieben. Jetzt wird „Jochen Fünf“ zehn.

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© Robert Michael

Von Frank Seibel

Ein Herrenzimmer in Dubrovnik. Breitgesessene Sofas in Rot und Beige, Bilder aus alten Zeiten auf matt geblümter Tapete. Ein Kühlschrank voller Bier und Cola. Zigarettenqualm filtert das ohnehin fahle Licht. Nach und nach füllt sich der Salon. Männer um die Vierzig nach getaner Arbeit. „Zuhause dürfen wir ja nicht mehr rauchen“, sagt einer, der sich Filipovic junior nennt. Gregorovic Gregorovicson nickt und öffnet sich ein Bier. Alkoholfrei. Seit er Frau und Kinder hat, wohnt er auf dem Land und muss mit dem Auto hierherfahren, um einmal in der Woche herrlich frei zu sein. Und Drumkic Benedetto Secondo sinniert beim echten Bier über Zeiten, „als wir noch wirklich wild waren“.

Das Herrenzimmer in Dubrovnik ist ein Traum – der wahr wird, sobald man diesen seltsam verruchten Raum betritt. Dann fangen ziemlich normale Männer auf einmal an, das R merrrrkwürrrdig zu rollen und manche Vokale in den Rachen rutschen zu lassen. Dann fabulieren sie von Sonne, Meer und Slivovic, von den Fleischröllchen, die die Großmutter gebraten hat, vor allem aber von den aufwendigen Recherchen im kroatischen Nationalarchiv, um den landestypischen Musiktraditionen nachzuspüren. Die speziellste Musikform haben Filipovic, Benedetto und Gregorovic allerdings nicht im Archiv entdeckt, sondern höchstselbst erfunden: den Kroatenbossanova. Prost.

In Wahrheit liegt dieses Dubrovnik an der Neiße, das Herrenzimmer gehört zu einem unsanierten, 100 Jahre alten Speisesaal im Herzen von Görlitz. Und die Herren heißen eigentlich Philipp Bormann, Gregor Hummel und Benedikt M. Hummel. Der eine hat den Tag im Theater verbracht, der andere in der Hochschule, der dritte kommt gerade vom Christkindelmarkt, den er für die Stadt Görlitz organisiert.

Was die drei eint, ist ein Studium, für das sie Ende der 1990er, Anfang der 2000er- Jahre aus verschiedenen Ecken Deutschlands nach Görlitz kamen. Aus Hildesheim im Nordwesten kam Philipp Bormann, die Brüder Benedikt und Gregor Hummel aus dem Südwesten, Buchen nahe Heidelberg. Und der Vierte im ursprünglichen Bund, Gerd Weise, kam aus Dresden in die östlichste Stadt Deutschlands, die seinerzeit noch durch eine EU-Außengrenze vom polnischen Teil der Zwillingsstadt getrennt war und nach Jahren der Massenabwanderung ausgezehrt und müde wirkte. Ein bis dato in Deutschland einmaliger Studiengang hatte die jungen Männer nach Görlitz gelockt: Kultur und Management.

Wir haben unsere Verantwortung als Studenten noch ernst genommen, erinnert sich Benedikt Hummel und sinniert über lange, bierselige Abende in Görlitzer Altstadtkneipen, bei denen das Basis-Studium in fantasiereiche Kolloquien überführt wurde. Gemeinsam Musik zu machen, war eine der eher biederen Ideen. Die Band aus damals vier Mitgliedern „Jochen Fünf“ zu nennen, war schon ein bisschen witzig. Wobei bis heute keiner erklären kann, wie der Name entstanden ist und was er bedeuten könnte. Es muss schon spät gewesen sein.

Nächster Schritt: Wir brauchen irgendeinen Verfremdungseffekt. Denn einfach nur Rock-Klassiker nachspielen ist weder originell noch sehr erfolgversprechend. Irgendein Akzent oder die Spur eines Dialekts sollte es sein. Polnisch ging nicht, zu nah, um witzig und zugleich politisch unbedenklich zu sein. Und es träumten doch alle irgendwie von mediterraner Leichtigkeit. Irgendwie kam das R ins Rollen, und alles nahm seinen Lauf. Die Fantasie reiste mit den vier Jungs nach Kroatien, es entstanden Legenden und Kreaturen, von denen sie selbst manchmal nicht mehr wussten, was nun erfunden ist und was wahr. Eigentlich ist es ganz einfach: Es ist alles erfunden, und keiner der Herren war je in Kroatien.

Eine Zutat fehlte noch: Kostüme. Natürrrlich haben traditionsbewusste Kroaten nicht nur den Bossanova im Blut, sondern auch prachtvolle Uniformen, wenn sie eine Bühne betreten. Eine Schneiderin im polnischen Teil der Zwillingsstadt war schnell gefunden, und ein wichtiges Detail gab es billig im Schlussverkauf des Görlitzer Kaufhauses. Dort gab es schmale Geschenkbänder aus Stoff zum Spottpreis. Sonderauftrag an die Schneiderin: Auf jede Paradeuniform drei lange Streifen, parallel zueinander. Da waren die vier Kulturmanager von Jochen Fünf schon fast auf dem Gipfel des Übermuts angekommen. Nur noch ein kleiner frecher Kick.

Auf Konzertplakaten, Tickets und CD-Covern setzten sie deutlich sichtbar immer ein „Wir danken Adidas“ samt dem offiziellen Firmenlogo des Dreistreifen-Sportartikel-Herstellers. „Eigentlich haben wir gehofft, dass uns Adidas irgendwann verklagt und wir durch einen schönen Skandal berühmt werden“, sagt Philip „Filipovic“ Bormann grinsend . Diesen Gefallen hat Adidas den Görlitzer Jungs aber nicht getan. Es wurde trotzdem eine hübsche kleine Karriere draus. Nach einer Zeit des Warmspielens beim jährlichen – selbst organisierten – Studenten-Festival „Campus Open Air“ haben die vier Pseudokroaten ein paar Jahre lang viele Konzerte in anderen Regionen Deutschlands und sogar im Ausland gegeben.

Kritische Geister werden sich zwar wundern, dass Gregorovic und Filipovic auf dem Album „Live in Latvia“ das Publikum mit „Hupfen Sie, Gorlitz!“ aufmuntern oder mit „Schwingen Sie die Huften, Gorlitz“, aber das Ganze ist wirklich nur eine halbe Fälschung. Aufgenommen wurde das Album zwar in Görlitz, aber die Tournee durch Lettland gab es wirklich.

An diesem Punkt der Erzählung leuchten die Männeraugen im Herrensalon in Dubrovnik an der Neiße. Noch ein kleines Bier, noch eine Zigarette, die Probe kann noch warten. Es ist ein bisschen wie bei der Feuerzangenbowle. Eine Anekdote toppt die nächste, und irgendwie ist alles wahr. Die Einladung zu den lettischen Kulturtagen in Riga, die Fahrt dorthin mit einem alten Kleinbus, die Wodkaflaschen im Bus, der Zwischenstopp in einer lettischen Kleinstadt, wo der Kroatenbossanova bei einer offiziellen Abiturfeier gegeben wurde, ein Auftritt in einem sehr bekannten Club in Liepaja und schließlich die große Bühne im Hafen von Riga.

Benedikt Hummel erinnert sich an „hundert Dixieklos“, aber nur an 50 Zuhörer. Aber sie hätten alles gegeben. Riga, hupfen Sie! Bei richtiger Feuerzangenbowle würden die Herren vielleicht sogar verraten, welcher von ihnen in einem noblen Schweizer Hotelfoyer die Orchideen verspeist hat, bis der Portier mit der Polizei drohte und alle sich kringelten beim Gedanken an den Gendarmen am anderen Ende der Leitung: soso, bei Ihnen isst jemand die Orchideen im Foyer.

Nur einmal, irgendwo in Thüringen, ist den Bossanovakroaten etwas mulmig geworden. „Da kam eine große Gruppe echter Kroaten, und wir wussten nicht, was passieren würde“, erinnert sich Philipp Bormann. Aber was passierte? Die Kroaten hupften und schwangen die Huften.

Sie hätten Profis werden können, glauben die Herren. Aber dann wäre aus dem Spaß Ernst geworden. „Wir fanden es schön, mit unseren Gagen gute Hotels und leckeres Essen, manchmal auch einen schicken Tour-Bus bezahlen zu können“, sagt Philipp Bormann. Und Benedikt Hummel ergänzt: „Ich wollte nicht darauf angewiesen sein, die Wohnungsmiete und das tägliche Leben aus Gagen zu bezahlen.“ Denn das lustige Band-Leben hatte noch einen besonderen Effekt für die Lebensläufe der Musiker.

In der Oberlausitz war „Jochen Fünf“ für einige Jahre richtig prominent. Als jeder „Jochen“ die Frau fürs Leben fand, änderte sich manches. „In den vergangenen fünf Jahren haben wir nicht mehr viel Musik gemacht, sondern vor allem gegen den demografischen Wandel angearbeitet“, sagt Benedikt Hummel und zählt durch: Elf Kinder hat „Jochen Fünf“ schon in die Welt gesetzt. Aber eine Freiheit bleibt unverhandelbar: Der wöchentliche Herrenabend in „Dubrovnik“. Nur einer, Bassist Gerd Weise, ist kürzlich ausgestiegen, ausgerechnet im Jubiläumsjahr. Die Liebe zur Familie, die Liebe zur Stadt, für die er ehrenamtlich im Rat mitarbeitet, und die Liebe zur Musik –  alles zusammen ging nicht mehr.

Einer ging, zwei kamen hinzu, so besteht „Jochen Fünf“ nun tatsächlich aus fünf Musikern. Das ist ein Rätsel weniger, aber ein lustiges Instrument mehr. Steffen Ziesmer alias „Dragoslav Stepanovic“ ist studierter Tubist und bringt sein Helikon mit ins Spiel, eine sehr verzwirbelte tschechische Tuba. Und über Familienbande – wie das so läuft in Kroatien – rückte noch der Dresdner Robert Franke („Goras Ivanisevic“) als Zupf-Bassist nach. Die Kinder werden ja auch größer, sagen sich die Herren und fangen zum zehnten Geburtstag wieder an, von häufigeren und heftigeren Abenteuern mit „Jochen Fünf“ zu träumen.

Und dass in Görlitz Träume wahr werden, haben die einstigen Kuma-Studenten früh gemerkt. „In welcher Stadt dieser Größe hat man so viele Freiheiten und kann so viel bewegen?“ Das sagt Benedikt Hummel ausnahmsweise ohne jede Ironie.

Jubliläumskonzert am Sonnabend, 10. Dezember, 20 Uhr, „Gleis 1“ im Bahnhof Görlitz.