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Hundert Handgriffe für einen Käse

Familie Vetter in Wehrsdorf verarbeitet die Milch vom Hof nach alter Tradition: mit Mut zur Langsamkeit und dem guten Gespür, im richtigen Moment auch schnell genug zu sein.

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© Uwe Soeder

Von Jana Ulbrich

Genau jetzt hat der Käsebruch die richtige Konsistenz. Bernd Vetter nickt zufrieden. Ungefähr eine halbe Stunde lang hat der 39-Jährige für diesen Moment am großen Kessel gestanden und mit aller Kraft seiner Arme gerührt. Besser gesagt geschnitten. Immer wieder hat er die Käseharfe, die man sich wie eine übergroße Gabel vorstellen muss, mit kräftigen Zügen durch die puddingdicke Masse im Kessel gezogen. Auf diese Weise hat er die mithilfe von Wärme, Lab und Milchsäurekulturen dick gewordene – ein Käser sagt: dickgelegte – Milch in Bruchstückchen geschnitten. Je kleiner der Bruch ist, desto fester wird am Ende der Käse. Für Camembert ist das jetzt – nach einer halben Stunde Rühren – gerade richtig.

Das Handwerk der Familie Vetter

„Es kann losgehen“, ruft Bernd Vetter in den Nebenraum. Der Käsebruch aus dem Kessel kann in die Formen geschöpft werden. Dabei ist Eile geboten. Denn mit jeder Minute, die jetzt ohne Rühren vergeht, wird der Käsebruch wieder dicker. Inge Vetter, Bernds Mutter und Seniorchefin der kleinen Hofkäserei im Sohlander Ortsteil Wehrsdorf, bindet sich schnell die weiße Wachstuchschürze um. Dann schöpfen Mutter und Sohn, was das Zeug hält: 300 Liter Käsebruch-Masse wollen in kleine, runde Körbchen geschöpft werden. Die Molke platscht und tropft. Für den Käse ist sie wertlos. Aus 300 Liter Milch werden am Ende 180 handtellergroße Camembert-Käse. Mehr nicht.

„Eigentlich sind wir ja Bauern“, sagt Inge Vetter. Wir wollten nie Käse machen.“ Aber ohne die Käserei gäbe es den Bauernhof und Vetters Milchkühe heute wahrscheinlich gar nicht mehr. „Nur vom Verkauf der Milch kann so ein Familienbetrieb auf Dauer nicht mehr leben“, sagt Inge Vetter. Sie ist jetzt 74. Mit ihrem Mann hat sie den Hof nach der Wende wieder eingerichtet. Damals, sagt sie, hätten sie nicht geglaubt, dass es mal so schwierig werden würde. Heute stehen 60 Milchkühe und genau so viel Jungvieh auf Vetters Hof. Bernds älterer Bruder Thomas kümmert sich um den Landwirtschaftsbetrieb, Bernd um die Käserei. Beides gehört untrennbar zusammen, sagt Mutter Inge, denn das Käsen beginnt im Grunde schon im Stall.

Nur aus einer hochwertigen Milch kann auch ein guter Käse reifen, sagt sie. Man kann es am Käse schmecken, ob es den Kühen gut geht. Vetters Vieh geht es sehr gut. Auch die Milchkühe dürfen sich hier frei bewegen und werden nur zum Melken in den Stall geholt. Sie stehen den Sommer über auf der Weide, im Winter auf Stroh. Alles, was die Tiere fressen, wächst auf den Wiesen und Feldern rund um den Hof. Das Stroh aus dem Stall kommt als Dünger wieder aufs Feld. Ein Kreislauf im Einklang mit der Natur. So muss es sein, sagt Inge Vetter und lächelt still.

Die Kühe geben 10 000 Liter Milch in der Woche. Die Hälfte verarbeitet die Familie inzwischen selbst: zu Joghurt, Quark und verschiedenen Sorten Weich- und Schnittkäse, die im eigenen Hofladen in Wehrsdorf, in kleineren Geschäften der Region und auf den Wochenmärkten zwischen Zittau und Dresden verkauft werden. Die Käserei hat inzwischen vier versierte Mitarbeiter, ohne die der Betrieb gar nicht mehr denkbar wäre. „Jeder kann sich hier auf jeden verlassen“, sagt Inge Vetter. „Das ist wichtig beim Käsemachen.“

Dabei wollte sie das Ganze anfangs nur mal als Hobby ausprobieren – zuerst mit dem Topf in der Küche, später auf einer Schulung in Oranienburg. Sie hätte nie gedacht, dass die Käserei eines Tages das Standbein für die ganze Familie werden würde. Es hat auch viel Mut dazugehört am Anfang. Beim Käsemachen braucht es ein gutes Gespür. Ein falscher Schritt, und eine ganze Produktion ist hin. Inge Vetter hat viele Erfahrungen erst machen müssen und auch viel Lehrgeld bezahlt. Heute ist sie stolz auf das, was sie und ihr Mann aufgebaut haben. Und auf ihre Söhne, die den Familienbetrieb so gut weiterführen.

Der 300-Liter-Kessel ist leer geschöpft, alle Masse ist auf die Förmchen verteilt. Jetzt muss das Wasser aus dem Käse. Und dafür sind wieder schnelle Handgriffe gefragt: Bis zum Abend nämlich wollen die Laibchen noch zigmal von der einen auf die andere Seite gewendet werden. Das ist die Voraussetzung dafür, dass aus säuerlicher Pampe ein freincremiger Camembert wird. Die Käsemacher müssen jetzt alle 180 Formen aller halben Stunden einmal umstürzen. Das geht ruckzuck mit schnellen, geübten Händen. Die Molke spritzt. Nach und nach entstehen so die Weichkäselaibe. Zum Abend hin, müssen die Zeitabstände zwischen dem Wenden immer länger werden. Auch das muss ein Käsemacher im Gespür haben – wann er schnell sein und wann er Mut zur Langsamkeit haben muss.

Erst am nächsten Morgen werden die kleinen Camembert-Laibe so viel Wasser verloren haben, dass sie gesalzen und zum Reifen in den Keller gebracht werden können. Auf Edelstahlrosten dürfen sie dann ganz langsam den typischen weißen Käseschimmel ansetzen. Damit das überhaupt klappt, braucht der Kellerraum eine ganz bestimmte Feuchtigkeit und die richtige Temperatur. Auch, um das genau richtig zu treffen, hat Inge Vetter lange probiert. Ungefähr eine Woche lang braucht der Camembert im Keller, ehe sich eine vollständige Schimmelrinde gebildet hat. Damit die Schicht auch schön gleichmäßig wird, werden die kleinen Laibe dabei ebenfalls wieder täglich per Hand gewendet.

Was für eine Heidenarbeit das ist: hundert Handgriffe für einen einzigen Camembert! Schnittkäse braucht noch mehr Handgriffe. Und noch mehr Milch. Wenn Bernd Vetter aus dem großen 300-Liter-Kessel die Masse für den „Alten Wehrsdorfer“ schöpft, einen würzigen Schnittkäse nach Appenzeller Art, dann werden am Ende gerade mal sechs tellergroße Käselaibe übrig bleiben. Und die müssen dann auch noch wochenlang im Keller bei zwölf Grad Celsius umsorgt und gehätschelt werden. Der „Alte Wehrsdorfer“ reift vier Monate.

Aller drei Tage steigt einer der Mitarbeiter in dieser Zeit die Kellertreppe hinunter. Nimmt jeden Laib einzeln vom Holzbrett, bürstet ihn mit Salzwasser ab, pinselt ihn mit Rotschmierekulturen ein, um ihn dann vorsichtig auf die andere Seite zurückzulegen. An den Brettern steht das Datum, an dem die Käsemacher ablesen können, wann sie die Laibe hier heruntergebracht haben. Jede Woche länger, die sie hier unten lagern, macht sie würziger. Ist so ein Käse nicht eigentlich unbezahlbar? Bernd Vetter blickt nachdenklich. 100 Gramm „Alter Wehrsdorfer“ kosten im Hofladen 2,10 Euro, 100 Gramm Camembert 1,50 Euro. Reich wird die Familie mit der Käserei nicht. Da kann der „Alte Wehrsdorfer“ noch so golden glänzen. Aber es war die richtige Entscheidung mit der eigenen Hofkäserei, sagen Inge und Bernd Vetter. Als der Milchpreis in den letzten Jahren so derart im Keller war, hat sie dem ganzen Hof das Überleben gesichert.

Bernd Vetter trocknet sich die Hände ab. Es ärgert ihn, dass viele diese Arbeit heute überhaupt nicht mehr so richtig schätzen. Wir stellen hier ein Lebensmittel her, das sehr wertvoll ist, und in dem sehr viel Arbeit steckt“, sagt er. „Ich würde mir wünschen, dass das wieder mehr im Bewusstsein wäre.“ Aber bei vielen sei eben vor allem die tägliche Werbung der Großmärkte im Bewusstsein, die Lebensmittel viel zu oft zu Sonderpreisen verschleudern. „Wenn ich das im Radio höre oder die Werbeblätter sehe, dann könnte ich richtig wütend werden“, sagt Bernd Vetter. Vor allem auch deswegen stehen die Türen der Käserei immer offen, können Passanten durch große Glasscheiben beim Käsemachen zusehen. Deswegen laden Vetters auch regelmäßig Schulklassen auf den Hof ein und erzählen den Kindern, wie aus guter Milch ein guter Käse wird. Oder Joghurt. Oder Quark. Und wie viel Arbeit das macht.