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Hier tut’s nicht so weh

An diesem Dienstag feiert die erfolgreiche ARD-Serie „In aller Freundschaft“ ein besonderes Jubiläum. Der Titel ist Programm. Nicht nur deshalb bleiben die Fans der Sachsenklinik treu.

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Von Karin Großmann

Bei einem Streit drückt ein junger Mann einem anderen die Schreckschusspistole ins Gesicht. Danach tritt die Maskenbildnerin auf. Sie modelliert dem Verletzten einen Batzen Blut auf die linke Wange. Das sieht wirklich gefährlich aus. Ein klarer Fall für die Sachsenklinik. Doch erstens sind die wichtigsten Ärzte gerade zur Weiterbildung in Erfurt, und zweitens haben sie keinen Experten für Schusswunden. Das überrascht. Denn sonst beherrschen die paar Weißkittel sämtliche Eingriffe von Kopf bis Fuß.

In der 489. Folge fiel die Klappe für die Hochzeit von Charlotte Gauss und Otto Stein. Ursula Karusseit und Rolf Becker spielen die guten Hausgeister.
In der 489. Folge fiel die Klappe für die Hochzeit von Charlotte Gauss und Otto Stein. Ursula Karusseit und Rolf Becker spielen die guten Hausgeister. © dpa
Die kühle Verwaltungschefin Sarah Marquardt (Alexa Maria Surholt) verstrickt sich neuerdings in Gefühle für Vater (Heikko Deutschmann) und Sohn.
Die kühle Verwaltungschefin Sarah Marquardt (Alexa Maria Surholt) verstrickt sich neuerdings in Gefühle für Vater (Heikko Deutschmann) und Sohn. © MDR/Saxonia

Praktischerweise fiel der Schuss vor den Fernsehstudios der Leipziger Media City. Dort wurde neben Patientenzimmern, Intensivstation und Büros ein OP-Saal mit echten Geräten eingerichtet. Manchmal steht ein echter Arzt dabei und schaut, dass die Handgriffe stimmen. Bisher gab es 1 265 Operationen – in zwanzig Jahren. „Da sich die Medizin stetig weiterentwickelt, wird es nie möglich sein, alle Operationen erzählt zu haben“, sagt Jana Brandt. Das klingt zuversichtlich nach Endlosschleife: Fortsetzung folgt auf alle Fälle.

Jana Brandt ist seit 1999 Fernsehfilmchefin beim MDR. Sie hat das Fach von Anfang an gelernt, als Volontärin beim Fernsehen und im Studium der Journalistik. Unter ihrer Leitung entstanden konfliktträchtige zeitgeschichtliche Mehrteiler wie „Charité“ und „Der Turm“ oder die viel gelobten Staffeln von „Weissensee“. Aus ihrem Bereich kommen auch die Dresdner und Erfurter „Tatorte“ und Serien wie „Um Himmels Willen“ oder „Tierärztin Dr. Mertens“ – und die erfolgreichste deutsche Krankenhausserie „In aller Freundschaft“.

„IaF“ ist of der Quotenhit des Abends

Jeden Dienstag verfolgen mehr als fünf Millionen Zuschauer ab 21 Uhr, was in der Sachsenklinik und darum herum passiert. „Chirurgische Klinik – Haus B“ steht seit Folge 125 über dem Eingang des Studiogebäudes. Vorher wurde in Bad Lausick gedreht. Die echte und die fiktive Cafeteria liegen dicht beieinander. Das ist praktisch, falls ein Salamibrötchen fehlt. Einmal stand das Krankenhaus kurz vor dem Aus, weil ein Minister die Fördermittel gestrichen hatte. Undenkbar! „So lange es uns gelingt, die Zuschauerinnen und Zuschauer weiterhin mit emotionalen Geschichten zu unterhalten, ist ein Ende nicht abzusehen“, sagt die Chefin Jana Brandt. Oft ist „IaF“, wie die Kenner sagen, der Quotenhit des Abends.

Wie ist dieser anhaltende Erfolg zu erklären? Jedenfalls nicht mit gedanklicher Schärfe und aktueller Brisanz oder mit raffinierten Wendungen. Wer zwischendurch ein Dutzend Sendungen verpasst, findet mühelos wieder rein. Das muss ein Drehbuch erst einmal leisten. An diesem Dienstag läuft die 800. Folge – mit einer herzbewegenden Variation des üblichen Strickmusters. In der Regel greifen die Macher zur bewährten Zopftechnik. Da wird ein privater Konflikt mit einem medizinischen Konflikt so lange im Wechsel umeinander gefädelt, bis nach einer Dreiviertelstunde der Abspann läuft.

Diesmal kollidieren die Konflikte. Der junge Mann mit der Schusswunde ist der Freund der Verwaltungschefin. Sie ist also doppelt an der Heilung des jungen Mannes interessiert, nein, sogar dreifach, denn der Vater des Verletzten schmachtet sie an. Die Schauspielerin Alexa Maria Surholt hat wenig Gelegenheit, sich von einer lieblichen Seite zu zeigen. Sie spielt die Verwaltungschefin der Klinik als harte Geschäftsfrau, als kühles, grantelndes Aas mit verborgenen Sehnsüchten. Sie ist die Böse. Das wissen die Zuschauer. Die Rollen sind klar verteilt. Es gibt die mitfühlende Krankenschwester, den charmanten Oberarzt, die schnippische Pflegedienstleiterin und den Zyniker vom Dienst, Typ raue Schale mit weichem Kern. Alles schön überschaubar.

Die Welt ist irritierend genug

Die Zuschauer bekommen genau das, was sie erwarten. Auch das macht die Serie erfolgreich. Die Welt ist irritierend genug. Fernsehfilmchefin Jana Brandt beschreibt das Rezept so: „Wir erzählen die Geschichten rund um die Sachsenklinik mit viel Liebe zu unseren Figuren. Dabei gehen wir auf kleine wie große Sorgen ein, wir lassen die Zuschauerinnen und Zuschauer dramatische und spannende Momente miterleben, zeigen aber auch romantische und humorvolle Seiten der Figuren. Der Mix macht’s.“ Der Humor wird nicht mit der ganz großen Kelle ausgeteilt. Zu viel Originalität würde das Stammpublikum nur verstören.

Doch dann lief zum Jahresende eine reizende, kleine Webserie in zehn Episoden mit dem Kliniknachtpförtner Tom – der hat komisches Potenzial. Sein Lachen über einen unbeholfenen Zaubertrick des Direktors steckt an. „Sie müssen nicht zaubern“, tröstet Tom den Chef. „Sie sind auch so lustig.“ Gerade das aber ist Heilmann gar nicht. Er trabt mit mürrischem Blick durch die Klinik und reagiert oft vorwurfsvoll und genervt. Als ihn eine Kollegin in der 800. Folge zum Tanz bittet, lehnt er ab. Doch dann rafft er sich auf. Oha!

Sollte die 21. Staffel eine neue Liebe bringen für Roland Heilmann, nachdem seine Frau Pia gestorben ist? Das würde die weibliche Hälfte der Fernsehzuschauer bestimmt freuen. Andere wünschen ihm eine Jüngere. „Schauen wir mal, wie sich das entwickelt“, sagt Jana Brandt. „Möglicherweise wird auch Dr. Heilmann wieder eine Frau an seine Seite bekommen.“ Mehr verrät sie leider nicht.

Sie gibt gern zu, dass sie nicht nur das Große und Ganze im Blick hat, sondern sich in die Entwicklung einer Serie intensiv einmischt, „von der ersten Idee bis zur Fortschreibung der Figuren“. Einmal im Jahr werden auf einer Autorentagung die großen dramaturgischen Bögen festgelegt.

440 Liter Filmblut in zwanzig Jahren

Der Arzt Dr. Heilmann zählt seit Beginn der Serie „In aller Freundschaft“ zum Stammpersonal. Der Schauspieler Thomas Rühmann hatte nach zwölf Jahren am Maxim-Gorki-Theater Berlin seinen Job verloren und war Klinkenputzen gegangen, bis sich die Tür zur Sachsenklinik öffnete. „Wenn man mit seinem Handwerk so viel Publikum erreicht, macht einen das schon ein bisschen stolz“, sagt er. Der feste Job verschafft ihm künstlerische Freiräume für sein Theater an der Oder, in Zollbrücke, im östlichsten Osten, und für Song-Tourneen. Dazwischen taucht er wieder ab in die Welt von Skalpell und Tupfer. 440 Liter Filmblut hat die Sachsenklinik in zwanzig Jahren verbraucht.

Rühmann hat darüber einige graue Haare bekommen und Karriere gemacht. Er übernahm von Dieter Bellmann den Posten des Klinikdirektors. Obwohl der Schauspieler Bellmann die Serie lange verlassen hat und im vorigen Jahr gestorben ist, weht er noch immer durch den Vorspann. Vielleicht soll das die Erinnerung des Publikums wachhalten. Männer behaupten, sie gucken ja nur, weil die Gattin guckt.

Andere Schauspielerinnen wurden aus der Serie rausgeschrieben, Uta Schorn, Jutta Kammann, Cheryl Shepard und Maren Gilzer zum Beispiel. „Es ist immer eine schwierige Entscheidung, liebgewonnene Charaktere zu verabschieden“, sagt Filmchefin Brandt. „Gleichwohl ist es die Mischung aus dem Beständigen, Vertrauten und dem Wechsel, dem Neuen, die den Serienerfolg ausmacht. Nur wenn wir die Geschichten weiterhin spannend und dramatisch erzählen, wird ,In aller Freundschaft’ noch viele Jahre bestehen können – das bringt die Notwendigkeit von Veränderungen mit sich.“

Der MDR-Rundfunkrat gab im Vorjahr grünes Licht gleich für drei weitere Staffeln. Macht 126 Folgen. Wenn nichts dazwischenkommt, reicht das bis 2020. Von Anfang an ist die Firma Saxonia Media als Produzent dabei. Gibt es eine Ausschreibung, mögliche Mitbewerber, gilt das billigste Angebot? Da hält sich Jana Brandt zurück. Diese Entscheidung liegt bei den ARD-Gremien, sagt sie, „und entsprechend werden die Verträge verlängert“.

Ganz Hoyerswerda als Komparsen

Streit wie neulich beim Dresdner „Tatort“, als eine Schauspielerin den Bettel hinwarf, dürfte im Ärzteteam seltener vorkommen. „Da gibt es eine über die Jahre gewachsene Nähe.“ Hin und wieder bereichert ein Prominenter die Bettenszene. Künstler wie Gunther Emmerlich, Guildo Horn, Johannes Heesters, Gojko Mitic, Pierre Brice oder Jürgen von der Lippe ließen sich in der Sachsenklinik kurieren. Mancher hat hier seine letzte Fernsehrolle gespielt, Fred Delmare als rüstiger Familienopa zum Beispiel. Rund 2 400 Hauptrollen wurden bisher mit Gästen besetzt. Dazu kommen 38 900 Komparsenrollen. Da hätte ganz Hoyerswerda mitspielen können.

In der 800. Folge gehen Komparsen aus Erfurt durch die Kulisse. Drei Leipziger Mediziner lassen sich dort im Johannes-Thal-Klinikum weiterbilden. Und wieder war ein geschickter Szenenbildner am Werk. Er verwandelte das Kindermedienzentrum in den Drehort für eine weitere Arztserie. „In aller Freundschaft – Die jungen Ärzte“ wird seit drei Jahren immer donnerstags um 18.50 Uhr im Ersten gezeigt. „Diese Verknüpfung einer erfolgreichen Hauptabend- mit einer neuen Vorabendserie ist im deutschen Fernsehen etwas ganz Besonderes“, sagt Jana Brandt. Sie ist darauf stolz, dass ihrer Redaktion dieses Projekt anvertraut wurde. Das kann dem Ruf des MDR als Konserven- und Volksmusiksender nur guttun. Die Drei-Länder-Anstalt kann mehr, als Erfolgsprogramme der DDR mit der Ulknudel Helga Hahnemann vorneweg zu recyceln.

„Wir haben uns als MDR über die Jahre hinweg eine besondere Kompetenz für Serien erarbeitet“, so Jana Brandt. Bei „In aller Freundschaft“ werden meist drei Folgen innerhalb von drei Wochen hintereinanderweg gedreht. Ein beachtliches Tempo.

Wirklich reißerisch geht es nie zu

Die Staffeln aus Leipzig und Erfurt sind personell lose miteinander verknüpft. In der 800. Folge landet ein Leipziger Mediziner sogar in einem Erfurter Klinikbett. Er will einen Betrunkenen vor dem Sturz von einer Mauer bewahren und fällt dabei selbst in die Tiefe. Und wieder ein Krankheitsbild mehr. Wirklich reißerisch geht es nicht zu. Kein Vergleich zu amerikanischen Arztserien. Auch das könnte den Erfolg der Produktion von MDR und ARD/Degeto erklären. Hier tut’s nicht so weh. In der Sachsenklinik nimmt sich ein Arzt noch die Zeit, den Sohn einer Patientin aus dem Kindergarten zu holen und mit ihm Memory zu spielen.

Überhaupt haben die Mediziner hier alle Zeit der Welt und können lange mit Patienten reden, wenn sie erst mal den Mundschutz los sind. Und auch das noch für Freunde der Statistik: 12 800 OP-Masken wurden in der Serie verwendet. Bei Masken ist sie ganz wirklichkeitsnah. Sonst eher weniger. Probleme wie Pflegenotstand, Arbeitsbelastung und Profitorientierung kommen höchstens am Rand vor. Sie sind nicht in einer Dreiviertelstunde zu lösen. „Harmonie ist uns und den Fans wichtig“, sagt Jana Brandt. „Sie erwarten eine realistische Darstellung medizinischer Themen, aber keine 1:1-Abbildung der Realität.“ Der Sendetitel ist Programm.