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Heute Schwänzer, morgen Hartzer?

Die Jugendhilfe im Landkreis Meißen kämpft mit steigenden Zahlen von Schulverweigerern. Manche sehen darin ein positives Alarmsignal.

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© Symbolfoto/Brühl

Von Kathrin Krüger-Mlaouhia

Landkreis. Der erste Satz einer aktuellen Studie zu Schulunlust und Schulfrust im Landkreis Meißen klingt banal und hat doch so viel Zündstoff: „Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf inklusive Bildung und Erziehung.“ Jeder soll seine Fähigkeiten voll entfalten können und wertschätzende Bildungs- und Erziehungsarbeit erfahren. Die Realität im Landkreis sieht manchmal anders aus. 910 seelisch behinderte Kinder und Jugendliche sowie junge Volljährige hat das Kreisjugendamt aktuell registriert, elf Prozent davon zeigen besondere Schulauffälligkeiten: Sie spucken Lehrer an, werfen Stühle um, stören den Unterricht massiv. Jeder Vierte dieser 100 Schüler wird von seiner Regelschule suspendiert.

Landen Kinder ohne Schulabschluss meist bei Hartz IV oder im Gefängnis?

Diese Auffassung wird landläufig oft vertreten – sei aber statistisch im Landkreis nicht belegbar, so Sprecherin Kerstin Thöns. „Die Jugendkriminalität war noch nie so gering wie jetzt“, so Kerstin Thöns. Allerdings verbauen sich Schulverweigerer natürlich die persönliche Entwicklung. Ihre Zahl ist im Kreis aktuell schon auf 135 angestiegen, darunter auch fünf Grundschüler und fünf Gymnasiasten. 2014 waren es nur 108. Ohne Schulabschluss haben die Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen.

Können Schulen mit mehr Sozialarbeit dem Konfliktpotenzial begegnen?

„Das können sie auf alle Fälle, wenn rechtzeitig auf Unterstützungssysteme zugegriffen wird“, meint Ralf Hänsel, Vizevorsitzender des Jugendhilfeausschusses im Kreistag. Doch Schulsozialarbeit dürfe nicht nur als Krisenintervention verstanden werden. Hänsel plädiert – wie das Positionspapier aus dem Jugendamt auch – für langfristige Planungssicherheit. Ordnungsstrafverfahren gegen Schulschwänzer dürften nicht zur Gewohnheit werden. Der Landkreis muss mehr von Familien fordern, die Hilfe zur Erziehung erhalten. Diese Hilfe muss die Motivation der Eltern fördern und sie ihnen nicht abnehmen.

Hänsel als ehemaliger Jugendamtsleiter sieht eine Falle bereits im schlechten Betreuungsschlüssel in Sachsens Kitas. Schon hier treten schließlich Erziehungsdefizite oft zutage. Kinder werden dann als erziehungsbehindert in die E-Förderschule abgeschoben, statt sie mit etwas mehr Aufwand in der Regelschule individueller zu betreuen, kritisiert Ralf Hänsel.

So kommt es, dass laut Abfrage 16 Kinder der E-Förderschule in Priestewitz Auffälligkeiten zeigen und sogar 37 aus den Förderschulen für geistig bzw. lernbehinderte Kinder.

Wie können Schulen auffällige Schüler überhaupt sinnvoll integrieren?

Ausschussmitglied Steffen Göpfert von der Evangelischen Jugend sieht das Grundübel darin, dass das Schulsystem überwiegend auf kognitives Lernen beruht und soziale Kompetenzen zu wenig gefördert werden. „Damit bekommen lernschwache Schüler dauernd ihre Minderwertigkeit gespiegelt“, beklagt Göpfert. Dass Schüler ein System meiden, das sie aussortiert, sieht er als gesunde Reaktion an. Freie Schulen würden auf eine andere Art bilden als staatliche Schulen. Eine Einteilung der Kinder durch Benotung fällt dort weitgehend weg, „Kinder müssen viel mehr Konfliktfähigkeit und lebenspraktische Kenntnisse lernen“, findet der evangelische Bezirksjugendwart. Als Soforthilfe schlägt auch er flächendeckende Schulsozialarbeit vor. An der Großenhainer Kupferbergschule und sechs weiteren Häusern läuft dazu bereits das Konzept „Chancengerechte Bildung“.

Müssen Schulschwänzer der Schulpflicht nicht nachkommen?

Doch, sie müssen. Es gibt im Kreis ein alternatives Lernprojekt, das in der Lage ist, schulabstinente Kinder aufzufangen: „MeiLe“ in Meißen. Das besteht seit zehn Jahren, hat acht Plätze und drei Mitarbeiter. Auch zwei Oberschüler aus dem Großenhainer Raum werden derzeit dort beschult. Zahlreiche Schützlinge – quer durch die sozialen Schichten – konnten ins Schulsystem zurück integriert werden, versichert Koordinatorin Elke Kohout. Bei MeiLe lernen sie in Kleingruppen und sie finden in der Regel die Freude am Lernen zurück: Vor allem dadurch, dass sie hier keinen Stempel haben. „Es gibt nicht nur die Randalierer, es gibt auch die stillen Verweigerer, die leise leiden“, sagt Elke Kohout.

Der Kreisjugendhilfeausschuss fordert, solche alternativen Schulformen mit mehr Praxisanteil auszubauen und weiterzuentwickeln. Das Geld dafür sollten Land und Landkreis präventiv bereitstellen.