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Herr Wilhelm und der Märzenbecher

Das Polenztal ist jetzt das beliebteste Ausflugsziel in Sachsen und für einen Biologen doppelt wichtig.

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Von Karin Großmann

Da muss man jetzt durch. Auf dem schmalen Pfad zwischen Ufer und Berghang gibt es kein Ausweichen. Schlamm schmatzt unter den Füßen. Leider steht der Gegenverkehr schon auf dem nächsten erreichbaren Stein. Ein Mops guckt ratlos und versinkt bis zum Bauch. Familien mit Kleinkindern und Kleinstkindern sind im Polenztal zwischen Neustadt, Hohnstein und Porschdorf unterwegs. Auch rüstige Wandergruppen mit Rucksack oder befreundete Ehepaare; immer laufen zwei Männer vornweg und zwei Frauen nach. An einigen Wackelstellen kommt es zum Stau. Umsichtige Großeltern testen den Weg mit einem Bollerwagen. Er besteht den Test nicht. Beim kollektiven Balancieren gerät das Wichtigste fast aus dem Blick. Das Tal ist für Märzenbecherwiesen berühmt. Gern mit dem Zusatz: romantisch.

Märzenbecher mögen Nässe, aber nur, wenn sie nicht stockt.
Märzenbecher mögen Nässe, aber nur, wenn sie nicht stockt. © kairospress
Das Zeichen weist den knapp einstündigen Weg um die „Bockmühle“.
Das Zeichen weist den knapp einstündigen Weg um die „Bockmühle“. © kairospress

Das sieht Eckehard-Gunter Wilhelm auch so, naturgemäß. Er ist ein großer, hagerer, bärtiger Typ mit wetterfesten Sachen und kräftigen Schuhen, wie man sich Biologen im Freien vorstellt. Menschenmengen mag er wenig. Schon als Jugendlicher in der DDR machte er seins. Er engagierte sich in der Kirche und flog in der zehnten Klasse von der Erweiterten Oberschule. Er lernte bei der Post und wurde Fernmeldebaumonteur. Im Abendkurs holte er das Abitur nach. Als Angehöriger der Arbeiterklasse bekam er nun einen Studienplatz an der Berliner Humboldt-Uni.

Im Polenztal kennt er jede Pflanze persönlich. Einmal geht er in die Hocke, schaufelt mit der Hand welkes Laub beiseite und sagt mit einer Freude, als hätte er eben das Bernsteinzimmer entdeckt: „Die Buschwindröschen sitzen schon in den Startlöchern!“ Das gefiederte Blättchenzeug ist kaum zwei Zentimeter hoch. Später werden hier Raritäten wachsen wie die Sumpf-Schafgarbe und die Kuckucks-Lichtnelke. Die Talwiesen werden seit 500 Jahren bewirtschaftet. 1821 wurde dort der Märzenbecher erwähnt.

Doch es ist nicht nur Naturliebe und botanisches Interesse, was den Mann in diese Gegend treibt. Er erinnert sich daran, wie er mit seinem kranken Sohn in dem Tal war. Der Junge lebt nicht mehr. Jetzt kämpft Wilhelms Frau mit einer schweren Erkrankung. Einen dauerhaften Job hatte er zuletzt vor 27 Jahren. Einen Halt, sagt er, findet er bei Frau und drei Töchtern, bei der Kirchgemeinde – und bei den Märzenbechern. „Es hilft, wenn man etwas macht, was vernünftig ist“, sagt der Biologe. „Sonst würde man es nicht aushalten.“

Ein kleiner Rundweg führt um den Gasthof „Bockmühle“ und hinauf auf die Höhe. Ein freies Feld mit Misthaufen und viel Wind darüber. Tolle Aussicht. Ein Waldstück am Horizont. Früher Raps. Weidezaun. Märzenbecher eher nicht. Sie mögen es „sickerfeucht“. Ein Biologe kann das erklären. Also erklärt er, dass diese Frühjahrsblüher nasse Füße brauchen und von Zeit zu Zeit sogar eine Überschwemmung ertragen können – vorausgesetzt, dass die Nässe nicht stockt. Deshalb zogen schon die Altvorderen Gräben um die Wiesen herum. So kann das Wasser abfließen. Auch die nebelreiche Lage des Tals wirkt Wunder. Experten schwärmen vom „kühlfeuchten Kleinklima“. Die Polenz spielt zurzeit großer Fluss. Mit kräftiger Eleganz schlängelt sie sich vorbei. Auf 22 Kilometern lässt sie hier und da eine Sandbank frei, wo dann seltene Dinge wachsen können. Das freut den Biologen.

Nach dem Studium wurde Eckehard-Gunter Wilhelm an ein pharmazeutisches Werk im ostthüringischen Artern vermittelt. Was er anfangs als Zwang empfand, erwies sich als Glücksfall: Er lernte seine Frau kennen und fand liebe Freunde. Sie erforschten Arznei- und Gewürzpflanzen. Er geriet an die Reagenzgläser mit Fenchel und schrieb dazu seine Doktorarbeit. Fenchel soll helfen bei Verdauungsproblemen, Husten, Bluthochdruck und Grünem Star. Märzenbecher hilft gegen nichts.

Selbst die heilkundige Hildegard von Bingen ließ ihn links liegen. „Märzenbecher sind einfach bloß schön!“, sagt Wilhelm. Und dass das wohl reicht. Hübsch hängen die weißen Glöckchen am Blütenschaft. Jedes der sechs Blätter trägt einen gelbgrünen Fleck, heiter hingetupft gegen das Nützlichkeitsdenken. Büschel an Büschel stehen sie unter den Schwarzerlen am Ufer der Polenz. „Da geht einem doch das Herz auf“, sagt Wilhelm. Solche Momente hebt er sich auf.

„Guckmada!“ Wie auf Befehl nimmt die Gruppe den getüpfelten Uferrand ins Visier. Schwer vorstellbar, wie Menschen vor Erfindung der Zoomfunktion fotografierten. Auch jetzt bleibt es eine Herausforderung für jeden Talwanderer, die Gattin, zwei maulende Kinder und die Schwiegermutter so ins Bild zu setzen, dass noch ausreichend Märzenbecher zu sehen sind. Es ist die hohe Zeit der Fußfotografie. Designer, die mal im Frühjahr durch das Polenztal gegangen sind, werden nie wieder Schuhe mit weißen Sohlen entwerfen.

Viel Blume, viel Volk. Alte sächsische Spruchweisheit. Gilt vor allem an Wochenenden. Kurz vor dem ersten Andrang wurden Schilder in die Wiese geklopft, auf denen eine schwarze Eule auf gelbem Grund vorm Betreten der Wiese warnt. Strengstens verboten! Leider halten sich einige Menschen nicht an die Regeln! So rügt das Internetportal, das von den Tourismusbüros von Stolpen und Hohnstein betrieben wird. Mit viel Anteilnahme berichten sie vom Wachsen der Märzenbecher seit den ersten grünen Spitzen. Das geht nun so bis Mitte April. Je nach Wetter. Das Naturschutzgebiet ist knapp acht Hektar groß.

Der Biologe Wilhelm hält nicht viel von Verboten. Er findet es besser, wenn Menschen aus Liebe und Vernunft das Richtige tun. Im Dresdner Umweltzentrum arbeitet er am Projekt „Urbanität & Vielfalt“, das Privatgärtnern gefährdete Wildpflanzen vermitteln will. Die Gärtner brauchen nur den passenden Boden und Interesse. „Wer sich kümmert, bekommt ein positives Gefühl für die Pflanzen“, sagt Wilhelm. „Das Thema ist wichtig, man kann es gut vermitteln.“ Für ihn bedeutet es eine Teilzeitstelle. Das Bundesamt für Naturschutz und der Freistaat finanzieren das Projekt mit.

Die große Infotafel nahe der „Bockmühle“ zeigt Schimmelflecke, rostige Nägel und ein beachtliches Alter. Zu lesen ist dort, dass Märzenbecher in der BRD zu den geschützten Arten gehören. Das Kürzel BRD wurde mit schwarzer Farbe nachgezogen. Vorher stand DDR dort. Nettes Beispiel für konfliktfreie Bewältigung der Vergangenheit.

Doch so leicht funktioniert es nicht, das weiß der Biologe Wilhelm am besten. Mit Doktorhut und junger Familie war er gerade nach Dresden gezogen, hatte neue Wohnung und neuen Job, als mit dem Wendeherbst alles anders wurde. Er erzählt, wie mit der Reprivatisierung der Firma achtzig Prozent der Angestellten ihre Arbeit verloren. Seit 1990 rettet sich Wilhelm von einer befristeten Stelle zur nächsten, von Projekt zu Projekt, von Auftrag zu Auftrag. Das kann einen mutlos machen. „Mir geht es ja nicht allein so“, sagt Wilhelm. Seine Frau, die ebenfalls in der Züchtungsforschung tätig war, schlug sich eine Weile als Tagesmutter-Springerin durch.

Soziologen beschreiben die Entwicklung als „kontrollierte Ausgrenzung“ und als „massiven gesellschaftlichen Desintegrationsprozess“. Und da ist es gar nicht tröstlich, zu wissen, dass es anderen ähnlich geht. „Wenn ich mich irgendwo bewerbe, genügt ein Blick aufs Geburtsjahr. Keine Chance.“ Wilhelm ist sechzig.

Bestes Wanderalter. Mit festem Schritt steigt er über Pfützen und Wurzeln und kommt auch bergauf nicht außer Atem. Spaziergänger breiten am blütenfreien Waldrand Sitzkissen, Thermoskannen und Brotbüchsen aus. Stammgäste kennen die Stellen. Ein Pulsnitzer Händler verkauft an den Wochenenden an der „Bockmühle“ Pfefferkuchen. Die mit Kirschkonfitüre gefüllten Spitzen sind zuerst raus. An der „Scheibenmühle“ macht der Wirt guten Umsatz mit Bier und Bratwurst. Man muss es rustikal mögen, um hier zu halten. Eine Kneipe ohne Parkplatz vor der Tür hat es schwer. Märzenbecher sind ein Tourismusfaktor, für manchen Ort der einzige.

Die Agrargenossenschaft von Heeselicht hat eine Wiese zum Parkplatz erklärt. Die Gebühr von einem Euro soll fürs Dorffest verwendet werden. Da können die Heeselichter aber tüchtig feiern. Ein handgefeilter hölzerner Märzenbecher weist den Weg hinab in den Grund. Der Wegweiser rund um die „Bockmühle“ zeigt die Pflanze in einer Art Brandmalerei. Kunst am Baum. Im Zweifelsfall immer dem roten Punkt nach.

Eine Gruppe Mittvierziger stapft wacker durch Matsch, nur die etwas korpulente Schlussläuferin zögert bei jedem Schritt und schimpft. „Wenn ich hier die Grätsche mache, hab ich die Brille auf.“ Märzenbecher verlangen Opfer. Es zählt nicht, dass sie ringsum in Vorgärten und auf anderen Wiesen wachsen. Dort ist es kein Ereignis beziehungsweise Event. Und wer wollte behaupten, dass die Auwaldwiesen hinterm Leipziger Rosental tausendmal schönere Märzenbecher haben? Sehen aber toll aus.

Die Pflanzen gehören zur Familie der Amaryllisgewächse und werden nach dem dicken Fruchtknoten auch Frühlingsknotenblume genannt. Eckehard-Gunter Wilhelm kann nebenbei erklären, wie sich die Zwiebeln vermehren, wo Regenwürmer am liebsten leben und warum sich Waldbestände wie Geschichtsbücher lesen lassen. Die TU-Fachrichtung Forstwissenschaft in Tharandt gehörte viele Jahre lang zu seinen Arbeitsstätten. Er schrieb mit an der Broschüre „Bewahrung der Biologischen Vielfalt – Beispiele aus Sachsen“. Das Heft ist für Schulen gedacht, herausgegeben vom Landesverein Sächsischer Heimatschutz.

Seit einem ABM-Einsatz arbeitet Wilhelm da mit. Die Märzenbecherwiesen im Polenztal sind Eigentum des Vereins, sie wurden 1928 gekauft. Die DDR erklärte sie zu Volkseigentum. Nach 1990 kaufte der Verein die Wiesen von der Treuhand zurück. Weitere Flächen kamen hinzu. Die Heimatschützer stehen im Grundbuch mit der Pflicht zur Naturpflege. Jemand muss sich darum kümmern, dass die Entwässerungsgräben erhalten bleiben und dass zweimal im Jahr zur richtigen Zeit und bitte ganz vorsichtig gemäht wird. Der Biologe erzählt von Pachtverträgen und Fördermitteln und dass er gelernt hat, Argumente der Gegenseite ernst zu nehmen.

Die Märzenbecherblüten schaukeln im Wind. Wilhelm sagt, dass sie nach Veilchen duften. Wer das nachprüfen will, braucht einige akrobatische Übung. Denn Pflücken geht gar nicht.