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Heimat im Herzen

Bilder von Flüchtlingen sind dieser Tage auf allen Fernsehkanälen zu sehen. 1945 fanden Flucht und Vertreibung noch ohne mediale Begleitung statt. Die Betroffenen haben die Erinnerung daran bewahrt.

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© dpa

Von Jörg Schurig

Hoyerswerda. Ihre Zahl wird kleiner, ihre Geschichte soll der Nachwelt erhalten bleiben. Mit dem Vormarsch der Roten Armee waren 1945 Millionen Deutsche auf der Flucht. Sie mussten ihre Heimat aufgeben, weil der von Deutschland ausgehende Krieg heim ins Reich zurückkehrte und Ostpreußen und Schlesier schutzlos machte. Auch nach Kriegsende waren viele von Vertreibung betroffen, weil Deutsche beispielsweise im Sudetenland nicht mehr bleiben durften. Sie kamen in ein Deutschland, das ihnen keine richtige Heimat war, und wurden von den eigenen Landsleuten oft wie Fremde behandelt.

Wenn am 8. Mai in Europa an das Ende des Zweiten Weltkrieges erinnert wird, rücken auch die Flüchtlinge von damals wieder ins Blickfeld. Zu mehr als zwölf Millionen betroffenen Deutschen kamen ähnlich viele ehemalige Zwangsarbeiter und KZ-Insassen hinzu, die durch Europa irrten und einen Neuanfang suchten. Der Historiker Günther Heydemann, Direktor des Hannah-Ahrendt-Institutes für Totalitarismusforschung in Dresden, sieht beim Thema Flucht und Vertreibung inzwischen einen Blick über den eigenen Tellerrand. Anfangs habe jedes Land da eine nationale Perspektive gewählt: „Inzwischen ist sie gesamteuropäisch.“

Wenn Vertriebene über die Tage der Flucht und den Neuanfang sprechen, wirkt das meist nicht so, als würden sieben Jahrzehnte dazwischenliegen. „Manche Tage kann ich von früh bis abends nacherzählen. Je älter man wird, desto deutlicher kommt das wieder“, sagt Brigitte Wilfert. Die 79 Jahre alte Frau stammt aus Marienburg in Westpreußen. Als sie mit ihrer Mutter fliehen musste, war sie neun Jahre alt. „Bis dahin hatte ich eine schöne Kindheit.“ Im Oktober 1944 bekam sie das erste Mal etwas vom drohenden Unheil mit. Damals kamen die ersten Flüchtlingstrecks aus dem Osten durch Marienburg.

Über 9 000 Menschen sterben in eiskalter Ostsee

„Die Mutter begann Sachen zu packen. Weihnachten 1944 war schon gedrückte Stimmung. Die Front kam immer näher.“ Brigittes Mutter wollte mit ihren beiden Töchtern das Flüchtlingsschiff „Wilhelm Gustloff“ in Gotenhafen (Gdingen/Gdynia) erreichen. Der damals 14 Jahre alte Bruder wurde bei Bekannten versteckt. Zu groß war die Gefahr, dass der Junge noch an die Front geschickt wurde. Bei minus 20 Grad Kälte ging es los. Doch an der „Gustloff“ kamen die Flüchtlinge nicht an - zum Glück. Denn das Schiff versank nach sowjetischen Torpedotreffern in der eiskalten Ostsee. Mehr als 9 000 Menschen starben.

Ein Kinderwagen, ein Rucksack, ein Federbett, ein Koffer. Mehr blieb Brigittes Familie auf der Flucht nicht. Bis 13. Februar 1945 war sie unterwegs: „Wir sahen erfrorene Kinder, das vergisst man nie.“ Der Bruder schlug sich auf eigene Faust zur „Gustloff“ durch, wollte aber nicht ohne Mutter und Geschwister an Bord. „Wir fanden ihn erst 23 Jahre später, 1968 bei einem Heimattreffen in Polen“, sagt Wilfert. Ein Russe hatte ihm das Leben gerettet, später nahm er eine Polin als Frau. Erst in den 1950er Jahren sei ihr klar gewesen, dass es niemals zurück nach Marienburg geht: „Die Heimat bleibt im Herzen.“

Auch Gisela Stenschke hat überlebt, weil sie nicht wie geplant auf die „Gustloff“ kam: „Da war Tumult. Das Schiff war schon überladen. Meine Mutter sagte: Da gehe ich nicht rauf, da können sie mich gleich erschießen.“ So ist es aus den Erzählungen ihrer Mutter überliefert. Stenschke war im Januar 1945 erst dreieinhalb Jahre alt. „Wir haben immer darüber gesprochen“. Auf der Flucht landete sie in der Nähe von Schwerin. Später zog es sie nach Hoyerswerda. Gemeinsam mit anderen Flüchtlingen von damals geht sie heute regelmäßig zu einem Treff, den der Stadtverband des Bundes der Vertriebenen organisiert.

Vertreibung war in der DDR Tabuthema

Manchmal sind sie als Zeitzeugen an Schulen zu Gast. In der DDR seien Flucht und Vertreibung ein Tabuthema gewesen, berichten die Frauen übereinstimmend. Oft wussten Betroffene nicht voneinander, dass sie das gleiche Schicksal teilten. Rosemarie Börner (76), die Pleß (Oberschlesien) ihre Kindheit verbrachte, erzählt von einem Schulkameraden, von dessen oberschlesischer Herkunft sie er erst nach der Wende erfuhr. Inzwischen sind alle wiederholt in die Heimat gereist. „Wenn ich dort durch die Straßen gehe, fühle ich mich zu Hause. Es ist ein Gefühl, beschützt zu sein“, sagt Frau Wilfert.

„Gleiwitz ist meine Heimat, aber hier bin ich zu Hause“, beschreibt Marianne Engelmann das Gefühl. Wilfert will im Juni wieder zu einem Heimattreffen nach Marienburg fahren. 25 Anmeldungen lägen für das Treffen schon vor. Rosemarie Börner hält die Besuche und Kontakte mit der heute dort Bevölkerung für wichtig: „Die Vertriebenen sind diejenigen, die die Brücken schlagen.“ Das immer noch Aufklärung nötig ist, hat sie am eigenen Leib gespürt: „Mich hat mal ein Schüler gefragt, wie ich heute mit der Schuld leben kann, im Hitler-Regime mitgemacht zu haben. Dabei waren wir damals Kinder.“

Mittlerweile wird in Hoyerswerda Geschichtsunterricht der besonderen Art geboten. Privatleute hatten 2012 ein Tenderboot der „Gustloff“ erworben und restaurieren lassen. Ein Förderverein organisiert damit seit vergangenem Sommer Ausfahrten im Lausitzer Seenland. Das Angebot richtet sich vor allem an Schüler, die bei dieser Gelegenheit etwas über die Geschichte des Mutterschiffes und das Schicksal der Flüchtlinge erfahren können. Das Boot soll als „als mahnender Zeitzeuge in friedlicher Mission“ unterwegs sein. Als es erstmals zu Wasser gelassen wurde, waren auch Zeitzeugen der „Gustloff“ dabei.

Frank Hirche, Chef des Landesverbandes der Vertriebenen und Spätaussiedler in Sachsen, findet es gut, sich der eigenen Geschichte zu stellen: „Denn aus der Aufarbeitung und deren Erkenntnissen beruht ja unsere Zukunft. Deshalb bin ich froh, dass wir in Hoyerswerda auf vielfältigste Weise nachfolgenden Generationen das weitergeben werden können. Gerade in der heutigen Zeit, wo es immer noch Flucht und Vertreibung gibt, denken wir nur an die schlimme Katastrophe im Mittelmeer, ist das notwendiger als je zuvor. Auch oder gerade damit nicht vergessen wird, was niemals zu vergessen ist.“ (dpa)