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Hauptsache, es ist grün

Großenhain hat seltene Bäume, bezaubernde Blüten und Wiesen bis zum Horizont. Vieles, doch nicht alles wird am Tag der Sachsen zu sehen sein.

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© hübschmann

Von Karin Großmann

Seit Wochen arbeitet Kerstin Mai auf den Tag der Sachsen hin, aber sie freut sich nicht drauf. Laut sagen darf sie das nicht. Wer das Fest ausrichtet, hat sich geehrt zu fühlen und dankbar. Immerhin kommen eine Viertelmillion Besucher, mindestens. Es ist schön, wenn alle mal dicht beisammen sind. Hier liegt das Problem. Einige Gäste werden womöglich nicht auf den Wegen bleiben wollen. Sie werden querbeetein laufen, Büsche mit Toiletten verwechseln und sich auf die Blumenkübel stellen, um alle anderen besser sehen zu können. Nach 21 Sachsentagen gibt es gewisse Erfahrungen.

Erbstück der Sächsischen Landesgartenschau: Röderwasser prägt das Stadtbild.
Erbstück der Sächsischen Landesgartenschau: Röderwasser prägt das Stadtbild. © Claudia Hübschmann
Blühende Fassade: Ein Textilladen schmückt sich mit Häkelei.
Blühende Fassade: Ein Textilladen schmückt sich mit Häkelei. © Claudia Hübschmann

Die Blumen und Büsche gehören zum Reich von Kerstin Mai, gut hundert Hektar insgesamt. Sie leitet den Bauhof von Großenhain, weil auch Bauhöfe keine Männerdomäne mehr sind. Vorher war sie Vorarbeiterin hier und noch vorher lernte sie Garten- und Landschaftsbau. Das ist kein Job für grazile Gazellen. Die Chefin kann zupacken, und das ist ihr anzusehen. Schickes Rot hat sich die 43-Jährige neuerdings in das kurz geschnittene Haar gefärbt.

Dabei hätte es der Tag der Sachsen am ersten Wochenende im September gern natürlich. Sie haben hier ihre eigene Schreibweise für das Wort: „NATUR´´lich Großenhain“. Nein, da hat nicht die Ü-Taste am Computer des Marketingmachers geklemmt. Es soll eine doppelsinnige und absichtsvolle Irritation sein. So erklärt es Matthias Schmieder, der Kerstin Mais Vorgänger war. In der Stadtverwaltung verantwortet er als Ordnungsamtschef nun jene Kür, die kaum Geld einbringt, aber viel kostet: das Grünzeug und die Kultur. „Es ist das, was die emotionale Bindung zu einer Stadt erzeugt“, sagt Schmieder.

Diese Bindung ist bei manchen so groß, dass sie Regenrinnen umhäkeln oder bei Wind und Wetter Gemüse verkaufen oder für einen einzigen Gast im Museum das Licht anknipsen. Hauptsache, es ist grün. Und dafür lohnt sich Großenhain unbedingt. Für den Sorbus zum Beispiel, wie die Mehlbeere auf Botanisch heißt. Die leuchtend roten Kullern wachsen die Bahnhofsstraße hinab, und Kerstin Mai kann die einen von den anderen unterscheiden, die Echte von der Schwedischen Mehlbeere. Natürlich kann das eine Gartenfachfrau. Pardon, natur´´lich.

Die Schweden selbst mussten draußen bleiben. Die Mauern waren zu hoch, bis zu zehn Meter; Bastionen und Wassergraben schreckten Feinde zusätzlich ab. Die große Stadt Hayn galt im Mittelalter als eine der stärksten Landfesten Sachsens. Später wurden die Wallanlagen in eine Baumallee umgewandelt, Schwerter zu Pflugscharen. Die Einwohner zogen ihren Sonntagsstaat an und gingen promenieren. Bis heute wächst hier prächtiges Großgrün im Kreis. Kerstin Mai verweist auf Schnurbaum und Amurkorkbaum, wer kann das schon. Ein Verbotsschild zeigt einen realistisch dampfenden Haufen Hundekot zusammen mit der Warnung: „Es gilt die Ortspolizeisatzung der Stadt.“ Die struppige Promenadenmischung, die mit einem angeleinten Herrchen vorbeistreunt, ist offenbar des Lesens nicht mächtig.

Die allererste Volksbücherei

Dabei hat sich Großenhain gerade wegen des Lesens einen Namen gemacht. Hier eröffnete, und jetzt bitte einen Tusch, Majestro!, Karl Benjamin Preusker 1828 die erste Volksbücherei Deutschlands. Ein Finanzbeamter, der Geld für eine Bibliothek gibt, ist gar nicht genug zu loben. Heute stehen in den Regalen beispielsweise Bücher, die „Der Wohlfühlgarten“ heißen oder „Gartenideen mit Töpfen, Kübeln & Co.“. Der Band „Garten easy“ rät, wie man ganz ohne Erfahrung zu prächtigem Grün kommt: Bäume sollten nicht zwischen Tür und Angel gepflanzt werden! Und wieder etwas zum Merken. An den Wänden hängen Aquarelle mit Blüten, der Innenhof der Bibliothek blüht in Echtzeit.

Bis zur Reformation häckelten hier Nonnen des Augustinerordens. „Der Hof soll Heil- und Kräuterpflanzen der Klöster zeigen“, sagt Kerstin Mai. Nonnen waren die reinsten Leckermäuler, mochten Rosmarin, Bartnelke und Sauerampfer. Die Symmetrie der Beete schwächelt wegen der unterschiedlichen Verteilung von Licht und Schatten. Von der Petersilie blieb nur das Schild. „Wurzellaus“, sagt Kerstin Mai schulterzuckend. Manche Läuse scheinen sich auf Petersilienwurzeln zu spezialisieren. Hat halt jeder ein anderes Nahrungsergänzungsmittel.

Klosterhof und Wallanlage gehören zum Gartenkulturpfad. Als er 2007 entstand, war es der Erste in Sachsen. Das kann so schwierig nicht sein. Der Pfad bezieht alles ein, was sowieso und artenreich rund um die Stadt wächst und wuchert – und Kerstin Mai in diesen Tagen viel Freude macht. „Wir haben ein paar Frequenzen höher geschaltet beim Mähen.“ Wiese bis zum Horizont in der Röderaue.

Meilensteine aus 800 Jahren

Es muss Zufall sein, dass Ilona Leuschke im Museum eine grasgrüne Bluse unterm schwarzen Jackett trägt. „Jetzt will ich unseren König mal bissel beleuchten“, sagt sie, und steckt den Stecker in die Steckdose. Albert von Sachsen lächelt dankbar aus dem Gemälde. Er war Chef der Husaren, mit denen sich die militärische Tradition von Großenhain fortsetzte bis knapp in die Gegenwart. Grüne Fußspuren führen weiter zu „Meilensteinen“ einer 800-jährigen Stadtgeschichte: Rokokoofen, Holzpropeller, Pilotendruckanzug. Die Röderblume kommt nicht vor. Dabei hatte es der Bibliotheksmann Karl Preusker so treffend formuliert: „Denn nur das, was gekannt wird, vermag man dadurch lieb zu gewinnen.“

Die Röderblume ist ein zartgelb blühendes, mannshohes Wesen aus dem Hause Rudbeckia, und Kerstin Mai könnte schwören, dass es im Tal der Gräser wächst – wenn nicht gerade der Knöterich dort mit böser Besatzermentalität wütete. Die dreißig Mitarbeiter der Bauhofchefin haben jetzt anderes zu tun, als sich mit einem Knöterich anzulegen. Zum Beispiel holen sie die üppig bepflanzten Blumenkübel aus dem Stadtzentrum raus, sicher ist sicher, und schaffen die Holzbuden rein. Etliche frisch gepflanzte Bäume müssen wieder gerodet werden. Sie stehen einer Bühne beim Tag der Sachsen im Weg. „Wir schlagen die Bäume ein, ich trau ihnen zu, dass sie es überleben“, sagt Kerstin Mai. „Zur Not werden sie entblättert.“ Ohne Blätter keine Verdunstung, ist klar, natur´´lich.

Der vollständige Werbespruch für das Sachsenevent im September ist übrigens eine Gleichung: „Natur + Kultur + Aktiv = NATUR``lich Großenhain“. Man wolle, sagte der Bürgermeister anlässlich der Landesgartenschau 2002, „weltstädtisches Flair“ in die Stadt bringen. So sieht das dann aus.

Das Tal der Gräser, die Rasenlandschaft, die Hardware wie Erlebnisbad, Kulturschloss und Brücken, all das gehört zur Hinterlassenschaft der Gartenschau. Es war von Anfang an klar, sagt Ortsamtschef Schmieder, dass Tausende Quadratmeter Blumen nicht zu halten waren. Die Esche, die Kurt Biedenkopf beim ersten Spatenstich für die Schau pflanzte, ist eingegangen. Der Nix war zu halten. Der froschgrüne Frosch taucht als Maskottchen beim Sachsentag wieder auf. Wahrscheinlich waren noch etliche der schielenden Aliens übrig geblieben. Macht 700 000 Euro, also für alles. Diese Summe erhält eine Stadt, die sich um das Sachsenspektakel bewirbt, vom Freistaat für Investitionen. Einige Politiker liebäugeln schon mal mit einer Bundesgartenschau, anzusiedeln zwischen Großenhain, Riesa und Meißen.

Manchmal dreht Kerstin Mai mit dem Rad eine Runde durch ihr Reich, kontrolliert die Rosenrabatten, schimpft auf das Schilf, obwohl es als Ried der Röder den Namen gab, doch es gehört nicht hierher, und lobt den Blauglockenbaum. Er hat schon dicke Blüten für das nächste Jahr angesetzt.

Dieses Blau und das Gelb der Röderblume, und Grün sowieso, hat Edith Hübner verhäkelt. In ihrem Eckladen verkauft sie Knöpfe, Nadeln, Reißverschlüsse, und was handarbeitsfreudige Einwohner sonst noch brauchen. Zusammen mit anderen Frauen verarbeitete sie Wolle mit ganzen und halben Stäbchen zu Blüten. Besonders plastisch werden sie bei sogenannter Irischer Häkelei. Alle Blumen wurden auf Stoff aufgenäht und an der Fassade um Ladenfenster und Tür befestigt. Sogar die Regenrinne wurde verkleidet. Edith Hübner hat weder Blüten noch Arbeitsstunden gezählt, aber vermutlich wird sie nachts noch im Traum ihre Schlingen gezogen haben. Man beginnt mit einer Luftmasche, dann legt man den Einlegefaden von vorne an die Luftmasche an, greift mit der Häkelnadel unter den Einlegefaden …

So entsteht der Stoff für lebenslängliche Erinnerungen. Es hätte auch eine Wimpelkette werden können, wie sie sich hier und da von einer Straßenseite zur anderen spannt. Aber Wimpelkette ist keine Alternative, und auch die grünen Damennachthemden in einem der Schaufenster sind neidvoll verblasst angesichts der gehäkelten Blütenkompetenz.

Kerstin Mai ist auch gern im Garten, wenn sie nicht gerade dienstlich im Garten zu tun hat. Zu Hause bei Priestewitz wächst der Dost mit den Schafen um die Wette. Auch das Gemüse zieht sich die Chefin des Bauhofs selbst. Es geht doch nichts über eine eigenhändig gebastelte Kürbissuppe. Deshalb gab der Bibliotheksmann Karl Preusker seinen schönen Töchtern in die Ehe neben der Bibel ein Kochbuch mit. Die Töchter hießen Mathilde, Rosa, Agnes, Ida, Emilie und Laura. Eine Adretta war nicht dabei. Es ist eine eher mehlige Sorte.

Der Stadtpark hat schon was

Inge Preibisch kommt dienstags und donnerstags mit ihren Kartoffelkörben zum Markt. In anderen Kisten liegen Tomaten und Gurken und Schalen mit späten Himbeeren. Die Dahlien explodieren beinahe. Die Roten Bete sind von außergewöhnlicher Größe. „Guter Boden und viel Pferdemist“, sagt die 65-jährige Händlerin. „Alles ganz natürlich.“ Das kann man so stehen lassen.

Vom Marktplatz aus zeigen die selbstverständlich grünen Hinweisschilder zum Beispiel zum Kupferberg, wo sich Kerstin Mai auch um richtigen Wald zu kümmern hat, und zum Stadtpark. Das ist ihr liebster Ort, „der hat schon was“, sagt sie, „das kann man nicht leugnen“. Der Park entstand im 19. Jahrhundert, als Großenhain eine baumlose Industrielandschaft war. Ein früher Vorgänger von Kerstin Mai änderte das. Er muss ein manischer Baumpflanzer gewesen sein. Etliche Exemplare hätten das Zeug fürs Guinness-Buch. Doch der Tornado, der vor vier Jahren durch Großenhain pfiff, zerscherbelte alle Rekorde zu Kleinholz.

Vereinzelt stehen noch einige Riesen auf der Wiese. Sie frösteln ohne den Windschutz der Gruppe. „Auch zwei Tulpenbäume sind hopsgegangen“, sagt Kerstin Mai traurig. „Aber die Flügelnuss hat überlebt!“ Viele neue Bäume wurden gesetzt, Eichen, Kastanien, an den Haltehölzern kleben Zettel mit den Namen der Spender. Großenhain soll seinem Ruf treu bleiben als „die freundliche Stadt im Grünen“. Im Stadtrat kommt die Farbe Grün nicht vor.