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Görlitz zeigt sich weltoffen

Nach dem Eklat um Kaufhaus-Investor Stöcker bekennen sich viele zur Aufnahme von Flüchtlingen.

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© Nikolai Schmidt

Von Daniela Pfeiffer und Frank Seibel

Als in Görlitz um Viertel sieben die Glocken der Frauenkirche dunkel und warm schlagen, gerät etwas in Bewegung. Von allen Seiten kommen Menschen herbei, evangelische und katholische Christen – Bischof, Superintendent und etliche Pfarrer unter ihnen – , bekennende Atheisten, Konservative und Sozialisten, Junge und Alte. Das Gotteshaus neben dem leerstehenden Kaufhaus füllt sich und wird für eine Dreiviertelstunde zum Bürgerhaus für eine Stadtgemeinde von mehr als 300 Menschen, mitten unter ihnen Oberbürgermeister Siegfried Deinege.

„Seit Jahrhunderten“, sagt Pfarrer Hans-Wilhelm Pietz, „begrüßen die Glocken der Frauenkirche Pilger und Reisende und verkünden die Botschaft: Friede sei mit dir.“ Der Pfarrer der evangelischen Innenstadtgemeinde hatte spontan zu dieser ökumenischen Andacht eingeladen, nachdem er in der SZ die Äußerungen des Kaufhausbesitzers Winfried Stöcker über Ausländer gelesen hatte. Stöcker hatte von „Negern“ gesprochen und gesagt, er würde Ausländer auch nach vielen Jahren treuer Mitarbeit in seiner Firma am liebsten wieder zurückschicken, die Weihnachtsbotschaft hatte der Medizinprofessor „Firlefanz“ und „ein Märchen“ genannt. Die Äußerungen hatten bundesweit für Empörung gesorgt, während die NPD dem Unternehmer per Pressemitteilung gratuliert.

Um an den Wert der Barmherzigkeit zu erinnern, von dem die biblische Weihnachtsgeschichte handelt, hatte Pfarrer Pietz den Gottesdienst organisiert. „Die Glocken mahnen all diejenigen zu Umkehr und Erneuerung, die Selbstverantwortung gegen Barmherzigkeit ausspielen“, sagte er. Stöcker hatte gesagt, die Syrer, die vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land flüchten, sollten lieber in ihrer Heimat kämpfen und Probleme im Land selbst lösen.

Der Kulturservice der Stadt hatte acht zusätzliche Männer eines privaten Sicherheitsdienstes engagiert, die an den Zugängen zum Christkindelmarkt standen. Auch sie konnten entspannt bleiben.

Ebenso still und friedlich sammelten sich gegen 19 Uhr die ersten Menschen auf dem Marienplatz, um von hier aus gemeinsam und demonstrativ zum Benefizkonzert auf dem Christkindelmarkt aufzubrechen, das ursprünglich im Kaufhaus geplant war. Dies hatte Winfried Stöcker verboten und mit drastischen Worten begründet. Um deutlich zu machen, was sie davon halten, warfen einige der Demonstranten per Beamer die Worte „Refugees welcome!“ – zu deutsch „Flüchtlinge willkommen!“ ans Kaufhaus. Andere hielten Transparente hoch. „Bleiberecht und freie Wohnungswahl für alle“ oder „Solidarität mit Geflüchteten“ stand darauf. Fast jeder der etwa 400 Menschen auf dem Marienplatz trug ein Friedenslicht in den Händen.

Kaum böse Worte gegen Winfried Stöcker dann auch auf der Bühne am Untermarkt. Zwar brachte OB Deinege erneut seine Bestürzung zum Ausdruck. „Mir fällt kein Wort dafür ein, was ich empfinde bei so viel Respektlosigkeit“, sagte er und widmete den Rest seiner kurzen Ansprache den Musikern, die auf ihren Auftritt warteten, ebenso den Frauen auf der Welt, die mit Kindern auf der Flucht sind. Mit den Worten „Ich freue mich, den Platz so voll zu sehen“, übergab er an die Künstler.

Etwa 500 Menschen wollten sie sehen. Ein bunt gemischtes Publikum tanzte fröhlich vor der Bühne. Die Männer vom Sicherheitsdienst hoben die anfängliche Absperrung in Höhe des Cafés Flüsterbogen bald wieder auf. Angesichts der heiteren Stimmung und Disziplin der Besucher war sie nicht mehr nötig. Nur ein Händler grummelte, während er eine Tüte Müll in einen Container wirft. „Uns hat keener gefragt. Eine Stunde null Umsatz.“

Neben der Bühne raunten indes Politiker, als OB Deinege sein Smartphone zückte, um eine E-Mail zu lesen. Das Gerät machte die Runde, Köpfe rückten zusammen, die Gesichter hellten sich auf. Winfried Stöcker hatte dem OB geschrieben, dass er Fehler gemacht habe. Zwischen Journalisten und Politikern macht die Information die Runde, dass die ARD-Tagesthemen ein Interview mit Stöcker geführt haben, und dass am Abend ein Beitrag über Görlitz und seinen Kaufhaus-Besitzer gesendet werde. Er werde manches relativieren, hört man. Freudige Erwartung macht sich breit, während die Stimmung allgemein zu Reggae-Rhythmen immer besser wird. Die Tagesthemen am Abend dann berichten positiv über Görlitz – aber Stöcker relativiert wenig, kommt nur kurz zu Wort, wiederholt seine Sorge, dass „die Türken“ hier bald in der Mehrheit sein könnten.

Gestern verbreitete dann ein Görlitzer im Internet das Gerücht, Stöcker habe seinen Rückzug vom Kaufhaus-Projekt erklärt. Das wies das Kaufhaus-Projektteam auf SZ-Nachfrage als falsch zurück. Im Gegenteil: Man freue sich, dass der Abend so gut gelaufen sei und die Stimmung so positiv war. Auch die Spendensumme war am Ende des Abends mehr als positiv: Über 2 500 Euro hat das Konzert eingebracht.