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Gesichter einer Bergstadt

Vier Holzbildhauer und ein Maler haben seit 15 Jahren über 30 Figuren geschaffen. Mehr als Christi Geburt zeigt die bergmännische Krippe das Leben im Erzgebirge. Nun endet das Kunstprojekt – vorerst.

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© Thomas Kretschel

Von Thomas Schade

Fleischer Süß trägt fast schwarze Schuhe und keine reinweiße Schürze. Am Ledergürtel baumelt der Wetzstahl. Sein Gesicht hat porträthafte Züge. Über einem Arm hängen Würste. Man möchte reinbeißen, so echt sehen sie aus. Mit der Linken zeigt der Fleischer auf Günther Kreher – einen seiner Schöpfer. Der Kunstmaler drückt dieser Tage ab und zu das stoffumwickelte Ende seines Malstocks an die Skulptur und zieht die dünnen blauen Streifen auf dem berufstypischen Metzgerhemd nach – letzte Pinselstriche einer großen Arbeit.

Krippenbilder: das Christuskind an der Brust der Mutter Maria mit Vater Joseph in Gestalt eines Bergzimmermannes ...
Krippenbilder: das Christuskind an der Brust der Mutter Maria mit Vater Joseph in Gestalt eines Bergzimmermannes ... © Thomas Kretschel
... und Ratsherr Gustav Hermann Köselitz.
... und Ratsherr Gustav Hermann Köselitz. © Bernd März

Der stattliche Kerl aus Holz steht auf einem kleinen Hocker in einem noch kleineren Atelier. Ein Atelier sei das gar nicht, in dem er arbeite, sagt Günther Kreher. „Eigentlich ist das meine gute Stube.“ In jedem Fall sind es die vier Wände, in denen der 76-Jährige die meiste Zeit des Tages zugange ist. Hier malt er seit drei Jahrzehnten das Erzgebirge. Seine Kunst hat der gebürtige Annaberger schon mit zwölf gelernt. Er ist nach Chemnitz zu dem Kunstmaler Arthur Wirth gefahren, der ihn ausbildete. Krehers Berufsleben hatte immer mit Malerei zu tun. Von vielen Hausfassaden in der Gegend leuchten seine Bilder. Vor Tagen noch standen überall in seiner Malstube Bergmänner, Engel und Räuchermännchen herum. Inzwischen sind alle neu bemalt – der Advent steht vor der Tür.

Aber mit Fleischer Süß vollendet der hochgewachsene Mann mit den kräftigen Händen dieser Tage etwas ganz Besonderes. Der Metzgermeister ist die letzte Figur der bergmännischen Krippe in Annaberg, an der vier Holzbildhauer 15 Jahre gearbeitet haben. Günther Kreher hat alle 32 Großfiguren bemalt. In wenigen Tagen gesellt sich Fleischer Süß zu anderen Handwerkern, um mit ihnen die Geburt Christi in die Welt zu tragen, so wie es die biblische Botschaft will.

Immer wenn die Heilige Nacht vor der Tür steht, wenn am Fuße des Pöhlberges die Schwibbögen in den Fenstern leuchten und sächsische Bergmanns-, Hütten- und Knappenvereine in Annaberg zur großen Bergparade antreten, dann schauen die Menschen öfter als sonst in der kleinen Bergkapelle am Nordende des Marktes vorbei. Hier hat das einzigartige Holzkunstprojekt seine Heimat.

Einzeln und in Gruppen steht hier eine eher unheilige, ganz irdische Familie beieinander, um die Geburt Christi zu feiern. Da ist der heilige Joseph, ein kräftiger Bergzimmermann. Schützend hält er seinen Arm über die Mutter Maria und leuchtet mit dem Grubenlicht, während sie das Jesuskind stillt. Die drei Weisen aus dem Morgenland sind Obersteiger aus den Bergrevieren Freiberg, Schneeberg und Annaberg. Ochs und Esel fehlen. Dafür tuscheln Schuster, Bauer, Nachtwächter, Hausierer, Gelehrte, Schulmeister und Priester über die Ankunft des Heilands. Statt der Hirten bringen Rufer, Klöpplerin, Bettlerin und Marktfrau Geschenke und verkünden die frohe Botschaft.

Doch in der kleinen Annaberger Bergmannskirche wird mehr verkündet als nur die Ankunft Jesu Christi auf Erden. „Uns geht es darum, den christlichen Glauben mit dem Gefühl für die Heimat und mit dem Leben im Erzgebirge zu verbinden“, sagt Dietmar Lang, der geistige Vater der bergmännischen Krippe von Annaberg. Anfangs sei es keineswegs Absicht gewesen, ein künstlerisch hochwertiges Figurenensemble zu schaffen, dessen Wert heute auf mehr als 160 000 Euro geschätzt wird. Vielmehr hatte das Rathaus im Jahr 1999 eine eher simple Bitte. Dietmar Lang sollte sich etwas einfallen lassen, wie man mit ein paar großen Figuren den Advent in der Stadt attraktiver machen könnte. Damals fiel Lang ein Pappschild mit dem Stern von Betlehem an der Bergmannskirche auf.

Bergleute hatten das kleine Gotteshaus vor 500 Jahren von ihren „Wochenpfennigen“ bauen lassen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurden unter den spätgotischen Bögen ausschließlich bergmännische Andachten abgehalten. Aber das Berggeschrey verstummte allmählich und die kleine, eher schlicht ausgestattete Kirche rückte in den Schatten der großen Stadtkirche von Sankt Annen. „Hier war Platz für etwas Besonderes“, sagt Dietmar Lang. „Es sollte etwas Unikates werden, was niemand hat.“

Der 77-jährige Lang geht seit seinem elften Lebensjahr mit Holz um, lebt in einem der ältesten Häuser der Gegend gleich neben dem Frohnauer Hammer, hat aber auch viele Male die Welt bereist. Man muss wohl ein Bodenständiger und auch ein Globetrotter sein, um auf die ausgefallene Idee eines Krippenweges zur Bergmannskirche zu kommen. Dietmar Lang ersann mehr als 30 Großfiguren. Sie sollten von verschiedenen Punkten der Stadt aus den Menschen den Weg zur Bergmannskirche weisen. Dort sollten sie der Heiligen Familie begegnen und der Geburt Christi – nur etwas anders, bergmännisch eben. Dafür verlegte Lang das christliche Weihnachtsgeschehen einfach 1 900 Jahre nach hinten – an die Schwelle zum 20. Jahrhundert, als der Bergbau in der Gegend endete und neue Gewerke wie Posamentierer entstanden waren. „Der Zeitsprung macht es möglich, das erzgebirgische Leben an einer wichtigen Zeitenwende zu zeigen“, sagt er.

Bei einem Treffen im „Erzhammer“ habe er dem Rathaus, der Kirche und den Händlern das Projekt vorgestellt, das Glaubensgeschichte, Bergbaugeschichte und Stadtgeschichte gleichermaßen verkörpern sollte. „Alle waren dafür, so etwas zu machen.“ Auf der Suche nach Holzbildhauern holte sich Lang, selbst Holzbildhauer, anfangs Körbe. „Es gab einige, die wollten gleich alle Figuren schaffen und führten ins Feld, dass das Ensemble schließlich eine Handschrift haben müsste“, sagt er. „Aber das war nicht unsere Intention.“ Schließlich fand er vier Künstler, die der Krippe nun die Handschrift eines Quartetts gegeben haben. Mit der Zeit, so sagt der anerkannte Fachmann in Sachen Holzkunst, sei unter den vier Holzbildhauern ein Wettbewerb um die beste Figur ausgebrochen.

Besonderes entsteht nie ohne Protest. Erst recht, wenn ausgerechnet Tradition und Glaube neue Wege gehen. Darf es beim weihnachtlichen Krippenspiel passieren, dass das Jesuskind nicht in seiner Krippe liegt, sondern bei Mutter Maria an der Brust, die auch noch zu sehen ist, ein wenig jedenfalls? „Da gab es ein paar böse Briefe“, erinnert sich Lang. Aber das sei lange her.

Mit der Zeit zog reales Leben ein in die bergmännische Krippe. Jesko Lange aus Zschorlau, einer der vier Künstler, führte die Porträt-Schnitzerei in das Projekt ein – künstlerisch eine Herausforderung, wirtschaftlich ein großer Vorteil, wie sich zeigen sollte. Zunächst setzte Jesko Lange dem Annaberger Kirchenoberinspektor i. R. Horst Richter ein hölzernes Denkmal und porträtierte ihn als Bergmann in Paradeuniform. Der ehemalige Lehrer ist Ehrenbergmann, war Verwaltungsdirektor der Annenkirche und hat sich um deren langwierige Sanierung verdient gemacht.

Aber nicht jeder kann sich in der Annaberger Krippe verewigen. Als es um die Figur eines Ratsherren ging, sollen kommunale Politpromis Schlange gestanden haben. Um politischen Ressentiments aus dem Weg zu gehen, beschloss der Annaberger Stadtrat extra, dass keines seiner Mitglieder Modell stehen dürfe. So entschied das kleine Kuratorium für den Annaberger Ehrenbürger Gustav Hermann Köselitz. Der war in den Jahren 1860 bis 1897 nicht nur Stadtrat, sondern auch zweiter Bürgermeister, vertrat das Erzgebirge im sächsischen Landtag und gründete eine nach ihm benannte Stiftung, die unbescholtene, aber hilfebedürftige Bürger unterstützte.

Mithilfe weniger Abbildungen, die es von dem renommierten Sohn der Stadt gibt, schuf der Frohnauer Holzkünstler Ronny Tschierske einen eleganten älteren Herren mit Zylinder, weißem Vollbart und Goldkettchen an der Weste, der sich souverän seinen schwarzen Gehrock überzieht. Der Enkel des Annaberger Lebensmittelhändlers Benno Löser sponserte die Figur. Ronny Tschierske, ein Sohn der Stadt, der in Oberammergau Holzbildhauer wurde, hat neun Skulpturen für die Annaberger Krippe geschaffen – auch die jüngste: Fleischermeister Süß. „Lange haben wir auf einen Sponsor für die Figur gewartet“, erzählt der 50-Jährige. „Eines Tages kam der Podiwin, Falk, ein Elektromeister gleich um die Ecke. Er fragte, ob ich seinen Opa schnitzen könne.“ Sein Großvater Kurt Süß war ein weithin für seine gute Wurst bekannter Fleischer. „So fügen sich die Dinge“, sagt Tschierske fast demütig.

Anfang September hatte er die Arbeit begonnen. Nach Gesprächen mit der Familie über Größe und Statur entstand zunächst eine Skizze und danach ein Modell aus Plastilin. „Es zeigt die Idee und ist noch offen für Wünsche des Sponsors“, sagt Tschierske. Danach schnitt und hobelte er astfreies Lindenholz und verleimte es unter hohem Druck zu dem Holzblock, aus dem er die Skulptur formte. Mit der Kettensäge schnitt er zunächst die Konturen zu. „Dann geht es ganz klassisch mit dem Bildhauereisen und mit der Raspelfeile zur Sache.“ Dabei bekommt die Skulptur die wichtigsten Linien. „Für die Feinheiten wird das Schnitzmesser angesetzt.“

Nachdem der Holzbildhauer mit seiner Arbeit zufrieden war, brachte er die Figur zu Günther Kreher nach Wiesa. Der zeigt ein paar vergilbte Fotos, die er von der Familie erhalten hat. „Mehr lag nicht vor. Wie jedes Motiv, entstand auch diese Bemalung des Fleischers im Kopf“, sagt Kreher. Mit ein paar Farbklecksen sei es nicht getan. „Das braucht Zeit, die Farben müssen immer wieder trocknen.“ Zunächst grundierte er die Figur mit einer Mischung aus Halb- und Paraffinöl. Darauf malte er mit Ölfarben und Öllasuren. Für die Würste kaufte Kreher extra beim Fleischer ein. „Das hat vielleicht gerochen hier, wie in einer Räucherkammer“, erzählt er.

In seiner Malstube wird die Krippe wohl auch in den nächsten Tagen Thema sein. Sein Atelier hat er dann in eine erzgebirgische Hutzenstube verwandelt. Der Schein der Kerzen strahle dann seine Mannl’n an, schwärmt er. Vom grünen Kachelofen ströme wohlige Wärme hinüber zur Sitzecke. Dorthin lädt Kreher ab und zu zum vorweihnachtlichen Glühwein. Kollegen, Holzbildhauer kämen da, Naturliebhaber, Jäger – „Freunde im Geiste eben“.

Dabei werde sicher auch wieder besprochen, wie es nun weitergeht mit der Krippe. 45 neue Figuren an zwei Dutzend Standorten geistern den Ideengebern schon durch den Kopf. Anders als die vollendete Krippe sollen diese Figuren tatsächlich draußen im Freien stehen und von attraktiven Punkten der Stadt Annaberg den Weg zur Bergkirche weisen. Günther Kreher fragt sich, ob er sie alle noch bemalen kann und witzelt: „Da müsste ich ja älter werden als der Heesters.“