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Geschafft

Paul Neumann war zweieinhalb Jahre auf Wanderschaft. Der Zimmermann kam bis auf die andere Seite der Erde.

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© Karl-Ludwig Oberthür

Von Annett Heyse

Grumbach. Zwei Wanderbücher, gerade so groß, dass sie gut in die Jackentasche passen, liegen vor ihm auf dem Tisch. Grüner Einband, starke Pappe, dickes Papier. Darin Dutzende Stempel. Aus Hamburg, aus Celle, aus Karlsruhe und weiter hinten dann aus der Schweiz, aus Norwegen, aus Italien. Einer ist sogar von der österreichischen Vertretung im kubanischen Havanna. Dazu stehen handschriftlich ausgeführte Arbeitsnachweise, Berichte, Beurteilungen. Und ganz oft die Bemerkung: „Viel Glück“.

Die Bücher sind Protokolle der vergangenen zweieinhalb Jahre, die der Zimmerer Paul Neumann auf Walz, wie es im Volksmund heißt, verbrachte. Die Handwerksgesellen sagen eher Wanderschaft oder Tippelei. Wie auch immer, der Begriff ist durchaus wortwörtlich zu nehmen: „In Deutschland wird gelaufen, maximal getrampt“, sagt Paul Neumann. Für einen Weg Geld auszugeben, ist lediglich im Ausland erlaubt.

Paul Neumann ist Grumbacher, lernte beim Hoch- und Ingenieurbau Wilsdruff und studierte Bauingenieur. Nach dem Abschluss packte ihn die Reise- und Abenteuerlust. Er meldete sich bei der Handwerksvereinigung Freie Vogtländer Deutschland. Im Januar 2015 wurde er von bereits erfahrenen Wandergesellen abgeholt, kletterte einer alten Tradition folgend übers Ortsschild, vergrub eine Flasche Schnaps – für den Durst bei der Heimkehr – und wanderte los. Erste Station war Hamburg.

Fünf Euro Startgeld, kein Handy

Die Walz ist eine alte Tradition, die heute vor allem noch von den Zimmerleuten hochgehalten wird. Die Idee ist, sich in der Welt umzuschauen, zu reifen, Erfahrungen zu sammeln und natürlich auch, seine Fertigkeiten zu verbessern. Früher war die Wanderschaft Voraussetzung dafür, überhaupt Meister werden zu dürfen.

Das ist heute anders, jedoch sind die Bedingungen und Vorschriften immer noch streng. Losgegangen wird mit fünf Euro in der Tasche. Zweieinhalb Jahre darf die Heimat nicht betreten werden. Um den Wohnort gilt ein Bannkreis von 50 Kilometer. Für Wege wie Unterkunft darf kein Geld ausgegeben werden. Handy ist verboten. Telefoniert werden darf nur von einer Telefonzelle aus. Und erst das Gepäck: Ein Wandergeselle trägt die Reisekluft und arbeitet in der Arbeitskluft. Dann noch ein bisschen Unterwäsche, eine Zahnbürste, den Reisepass, eventuell einen Schlafsack. „Wir haben so vier bis fünf Kilo dabei. Es ist erstaunlich, mit wie wenig man auskommen kann“, berichtet Neumann. Die Kluft übrigens habe sich im Sommer als sehr warm und im Winter als sehr zugig erwiesen. Wie hält man das aus? Neumann zuckt die Schultern: „Irgendwie geht das.“ Und ein bisschen gegensteuern geht auch: Im Sommer arbeitete der Grumbacher unter anderem in Skandinavien, im Winter eher in warmen Gefilden wie eben auf Kuba.

Seine Wege führten ihn mal allein, mal in einer Gruppe mit anderen Wandergesellen zunächst kreuz und quer durch Deutschland, vor allem in den Süden, dann in die Schweiz. „Da wird viel gezimmert, man lernt etwas und verdient dabei noch gutes Geld.“ Zum Reichwerden ist die Tippelei aber nicht gedacht. Das Geld gab der heute 28-Jährige für Werkzeuge und Maschinen aus, die er nach Hause schickte. Und er kaufte sich Flugtickets – nach Spanien, nach Thailand, nach Kuba. Sogar auf den Philippinen war er. „Da habe ich aber keine Arbeit gefunden.“ Dafür arbeitete er in Thailand in einem Hotelkomplex, zimmerte dort mit Kollegen und mehreren einheimischen Arbeitern unter anderem die Pavillons einer Pool-Landschaft.

Verständigt wurde sich auf Englisch. „Damit kommt man überall herum, außer auf Kuba. Dort wurde es schwierig, weil kaum einer etwas anderes als Spanisch spricht.“ Natürlich war er auch dort in der traditionellen Kluft – Cordhose mit Schlag, Hemd, Weste, Jackett und Hut – unterwegs. „Mitunter wurden wir für Cowboys oder Musiker gehalten.“ Doch ebenso in Deutschland fallen die Gesellen auf. Paul Neumann hat daran auch unangenehme Erinnerungen: „Die Leute kommen, begrapschen einen, ständig muss man über sich erzählen, das kann anstrengend sein. Das Schlimmste aber ist, wenn andere ungefragt ihr Handy hochhalten und Fotos machen.“

Wandergesellen haben keine feste Route im Kopf, gereist wird spontan. „Wo es einem gefällt, hält man an und fragt nach Arbeit“, berichtet Neumann. Es sei auch eine Art Treibenlassen, letztendlich bestände die Wanderschaft zu einem Drittel aus Reisen mit arbeitsfreien Tagen und zu zwei Dritteln aus Arbeit. Dabei muss man mindestens 14 Tage, maximal aber zwei bis drei Monate für ein Unternehmen tätig sein. Übernachtet wird kostenlos irgendwo. „Wenn man in einen Ort kommt, fragt man sich einfach durch, oft ergeben sich in der Kneipe Kontakte und man hat sein Bett“, berichtet Neumann. Er habe sich manchmal im positiven Sinne gewundert, wie gastfreundlich die Deutschen doch seien. Und wenn nicht, verbringen Wandergesellen die Nacht eben auch mal unter freiem Himmel oder im Sparkassenvorraum.

Was bringt so ein Lotterleben? Paul Neumann muss nicht lange nachdenken. „Man lernt natürlich beruflich dazu. Aber heute besitze ich auch eine bessere Menschenkenntnis als vor zweieinhalb Jahren.“ Und man entwickle eine gewisse Unbeschwertheit, eine Zuversicht, dass sich alles fügen werde. „Man macht sich nicht so viele Gedanken und Sorgen, wo man zum Beispiel als nächstes arbeitet oder ob man ein Quartier für die Nacht findet.“ Und dann sagt er einen Satz, der vielleicht die ganze Idee, die heutzutage hinter der Wanderschaft steckt, ganz gut zusammenfasst: „Man kommt als anderer Mensch zurück.“ Nun will er im Sommer arbeiten und ab September seinen Meisterlehrgang absolvieren.

Die letzte Etappe seiner Wanderschaft führte ihn von der Schweiz nach Sachsen zurück. Als sich der Tag der Heimkehr näherte, traf er sich mit Kollegen in Bautzen, von dort ging es in zehn Tagen zu Fuß nach Grumbach. Und dann einer alten Tradition folgend wurde übers Ortsschild geklettert. Auf der anderen Seite warteten Familien, Freunde, Bekannte. Die Flasche Schnaps übrigens war auch noch da.